Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
kichernden Mädchencliquen der Klassenkameradinnen ausgeschlossen fühlt, ist es das beste Gegenmittel, sich in der Schularbeit zu vergraben. Es machte ihre Eltern stolz, wenn sie lauter Einsen schrieb und die Beste in ihrer Klasse war und der Star des Begabtenprogrammes an ihrer Highschool. Und tatsächlich machte ihr die Schule wirklich Spaß.
Niemand hatte jemals etwas Abfälliges über Meninas hispanische Herkunft gesagt. Im Gegenteil: Die Walkers hatten immer wieder betont, dass sie stolz darauf sein sollte. Als die beiden ihr Versprechen an die Oberin einlösten und ihr an ihrem sechzehnten Geburtstag die Medaille und das alte Buch gaben, hatte Virgil eine kleine Ansprache darüber gehalten, wie wichtig ihre Herkunft sei und wie ihre leiblichen Eltern ihr vielleicht die Kette mit der Medaille um den Hals geschlungen hatten, weil sie hofften, dass sie Zauberkräfte hätte, die ihr Kind retten würden. Menina hatte sich seine Worte zu Herzen genommen.
Allerdings hatte sie früh erkannt, dass sie als Waise des Mano del Diablo und als Adoptivtochter der Walkers privilegiert war. Sie war sich der Vorurteile nur allzu bewusst, die die Leute in Laurel Run gegen Mexikaner und andere hispanische Einwanderer hatten, die mit zerbeulten Lastwagen voller schäbig gekleideter Kinder herumfuhren und bereit waren, für einen Hungerlohn Geschäfte auszufegen, Tanksäulen zu bedienen oder schwere Gartenarbeit zu verrichten. Im Ort regte sich heftiger Widerstand, als Geld für ein Gemeinschaftszentrum für die hispanische Bevölkerung gespendet wurde, das am Stadtrand entstehen sollte. Auch an der Highschool sparten die Schüler nicht mit Witzen und abfälligen Bemerkungen über die »Spics«, wie sie verächtlich genannt wurden, und je öfter Menina sie hörte, desto wütender wurde sie. Eines Nachmittags schwang sie sich nach der Schule auf ihr Fahrrad und fuhr zu dem Zentrum.
Im Büro des Leiters, einem kleinen Raum, roch es nach Mörtel: Arbeiter waren gerade damit beschäftigt, eine große Bronzetafel anzubringen, auf der stand, dass das Gemeinschaftszentrum ein Geschenk der Pauline-und-Theodore-Bonner-II.-Stiftung sei. Menina stellte sich vor und bot ihre ehrenamtliche Hilfe an. Schon bald gab sie hispanischen Kindern Englischunterricht, beriet die Eltern bei allen möglichen praktischen Problemen und half ihnen dabei, Formulare für Gesundheitsfürsorge und Lebensmittelmarken auszufüllen. Es machte ihr Spaß, etwas Nützliches zu tun, und gleichzeitig begann sie, ihr Spanisch wieder aufzufrischen. Als sie ihre Sprachkenntnisse allerdings an dem alten Buch aus dem Kloster testen wollte, musste sie feststellen, dass das Buch einfach zu schwierig war. Die s sahen wie f aus und außerdem schien es auch nur von Nonnen zu handeln. Aufzeichnungen aus einem Kloster, genau wie ihre Eltern gesagt hatten. Nicht besonders interessant.
Als die Zeit kam, aufs College zu gehen, zog Menina es vor, nicht von zu Hause wegzuziehen. Sie bekam ein Stipendium, um Kunstgeschichte am örtlichen Junior College zu studieren. Holly Hill war eine reine Mädchenschule und die alten Damen von Laurel Run nahmen Meninas Entschluss, dort zu studieren, wohlwollend zur Kenntnis. Es war eine ausgesprochen damenhafte Entscheidung, fanden sie, ebenso wie die Wahl des Studienfachs.
Das College war einer dieser Anachronismen, die man in den Südstaaten häufiger antrifft. Zwei unverheiratete Blaustrümpfe hatten Holly Hill zunächst als »Akademie für Damen« gegründet. Dort bekamen junge Damen Unterricht in Latein, Geschichte und Naturwissenschaften, und das zu einer Zeit, in der man Blumenstecken, Sticken und ein paar Brocken Französisch als vollkommen angemessene Vorbereitung auf ihr Leben betrachtete. Die Gründerinnen verfuhren nach dem Motto »Wenn ein Mädchen Cicero lesen kann, kann es auch Rezepte lesen.« Latein (ein Fach, das Menina liebte, wie sie einmal uncoolerweise zugegeben hatte) gehörte weiterhin zu den Zugangsvoraussetzungen für ein Studium am Holly Hill. Dank der Zuwendungen wohlhabender ehemaliger Schülerinnen verfügte das College über eine hervorragend ausgestattete kunstgeschichtliche Abteilung.
Damenhaft zu sein hatte auch seine Vorteile. In ihrem ersten Collegejahr war Menina dem gut aussehenden Theodore Bonner III. aufgefallen. Als Theos Sportwagen abends immer öfter in der Einfahrt zum Haus der Walkers auftauchte, nahm die ganze Stadt diese Tatsache zur Kenntnis. Theo war der einzige Sohn einer der ältesten und
Weitere Kostenlose Bücher