Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
stirnrunzelnd an, die sich verdächtig oft die Augen abtupfte. Sor Rosario schluchzte kurz auf, beugte sich hinunter und nahm Isabelita fest in den Arm. Dann kam die Oberin um ihren Schreibtisch herum, beugte sich steif zu ihr hinunter und umarmte sie ebenfalls. »Denk daran: Sei gut.« Sie flüsterte dem Kind ins Ohr: »Sei ein gutes Mädchen. Ein sehr gutes Mädchen. Gott beschütze und bewahre dich. Adi ó s .«
»Sie können alle ganz beruhigt sein«, sagte Virgil zu den Nonnen. »Wir geben ihr eine gute Erziehung. Und halten unser Versprechen«, fügte er hinzu. Er beugte sich hinunter und hielt dem Kind den Teddy entgegen. Isabelita sah die Oberin um Erlaubnis bittend an. Als diese nickte, breitete sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus, und sie nahm den Teddy in die Arme. Virgil hob sie mitsamt dem Teddy auf den Arm und sagte: »Nanu, wen haben wir denn hier?« Das Kind kicherte und vergrub das Gesicht im Fell des Bären. »Menina, Schätzchen, Mama und Daddy gehen jetzt mit dir Eis essen, helado . Magst du helado ?« Das Kind nickte. Sie hatte keine Ahnung, was helado war, doch offenbar erwartete man von ihr, dass sie nickte. »Und danach setzen wir uns in ein großes Flugzeug und fliegen davon. Familie Walker fliegt nach Hause.«
Sor Rosario öffnete die Tür und folgte ihnen laut schniefend nach draußen. Die Oberin lauschte, wie ihre Schritte im Flur allmählich leiser wurden. Nun, da sie wieder allein war, blickte sie zu den monjas coronadas auf. »Möge Gott sie geleiten und beschützen, doch ich bin sicher, das wir das Richtige getan haben. Deo gratias , für die Walkers, meine Schwestern. Deo gratias .«
KAPITEL 2
Laure l R un, Georgia, März 2000
Die eindringliche Ermahnung »Sei ein gutes Mädchen«, die die Oberin ihr zum Abschied mit auf den Weg gegeben hatte, blieb lange in Meninas Gedächtnis haften, auch als ihre Erinnerungen an die Oberin, Sor Rosario und selbst an das Kloster längst zu einem undeutlichen Bild verblasst waren.
»Sei ein gutes Mädchen! Sei ein sehr gutes Mädchen!«
Und sie war tatsächlich ein gutes Mädchen. Die Bewohner der kleinen Stadt Laurel Run waren sich einig, dass Menina Walker ihren Adoptiveltern alle Ehre machte. Sie war höflich, brachte immer die besten Noten nach Hause, sang im Chor der Baptistengemeinde, half ihrer Mutter, ohne dass sie sie darum gebeten hätte, und war auf der Highschool eines der Mädchen mit einem »guten Ruf« gewesen. Nie hatte sie heimlich geraucht, nie gekifft, war nie betrunken nach Hause gekommen und hatte auch nicht im Autokino sexuelle Erfahrungen gesammelt. Angesichts des Verhaltens ihrer eigenen Töchter rauften sich die Mütter von Laurel Run die Haare und fragten sich, wie Sarah-Lynn Walker es geschafft hatte, ein derart damenhaftes Geschöpf wie Menina großzuziehen. Ständig ermahnten sie ihre Töchter, sich ein Beispiel an ihr zu nehmen.
Bei solchen Gelegenheiten erwiderten die Mädchen oft, dass Menina ja kaum anders konnte, als gut zu werden. Das hübsche Kind, das die Walkers aus Südamerika mitgebracht hatten, war zu einem ungelenken Teenager herangewachsen. Seit ihrem zwölften Lebensjahr war Menina ein gutes Stück größer als ihre Mitschüler, sie trug eine Zahnspange und stand in dem Ruf, das Superhirn der Klasse, eine Streberin und ein Vorbild in mustergültigem Betragen zu sein. Erst in ihrem letzten Schuljahr war aus dem dünnen Entchen ein Schwan geworden, doch die Jungen sahen in ihr nur die Klassenbeste, nicht jemanden, mit dem man ausgehen wollte.
Dabei war Menina geradezu erblüht. Mit neunzehn Jahren war sie groß und schlank, sie hatte feine Gesichtszüge, weiche olivfarbene Haut und dunkle Haare, die ihre wunderschönen saphirblauen Augen besonders zur Geltung brachten. Trotz ihres bereitwilligen Lächelns war aber eine gewisse Vorsicht in ihrem Verhalten spürbar. Und eine leichte Schüchternheit in ihren schönen Augen ließ erkennen, dass ihre Schönheit etwas Neues für sie war – und dass sie sich erst daran gewöhnen musste.
Selbst jetzt glaubte sie nicht recht, wie sehr sie sich verändert hatte, egal, was der Spiegel und ihre vernarrten Eltern ihr sagten. Allerdings verbrachte sie nicht allzu viel Zeit damit, sich über ihr Aussehen Gedanken zu machen. Sie war zwangsläufig so vernünftig geworden, genau das nicht zu tun, und außerdem wusste sie, dass sie etwas von einem Sonderling an sich hatte. Und sie hatte noch etwas anderes gelernt: Wenn man sich hässlich und von den
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