Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
überwältigender Schönheit und der Inquisition ein Dorn im Auge.
Zusammen lasen Esperanza und ihr Vater diese Bücher, vor allem das Buch von Ibn Sina, das im Herzen ihres Vaters einen besonderen Platz einnahm. Er lehrte sie, dass diese Bücher Wissen und Weisheit enthielten, die den Menschen von Gott gegeben wurden. Gott offenbare sich den Menschen auf unterschiedliche Weise, durch die Hilfe der gesegneten Propheten vieler Religionen. Nachdem sie das schreckliche Autodaf é mit angesehen habe, müsse Esperanza wissen, dass sie niemals einen Menschen der Ketzerei bezichtigen dürfe. Und auch diese verborgene Bibliothek dürfe sie nie erwähnen.
Esperanza verstand, dass die Überzeugungen ihres Vaters denen ihrer religiösen Lehrmeister zuwiderliefen und dass er vor allem das Zölibat für Nonnen und den Klerus ablehnte. Sie spürte, dass es etwas mit ihrer Mutter zu tun hatte, doch wenn sie Fragen nach ihr stellte, seufzte ihr Vater nur und sagte, er würde es ihr erzählen, wenn sie älter sei.
Kurz vor Esperanzas sechzehntem Geburtstag bekam ihr Vater einen Husten, der ihn fast zerriss, er hatte immer wieder Fieber und rang nach Luft. Esperanza sah ihn ganze Tage lang in dem Buch der Heilung lesen. Er probierte ein Heilmittel nach dem anderen aus, während er sich ein Taschentuch vor den Mund hielt und Blut hustete. Sie las mit ihm zusammen in dem Buch, prägte sich die Symptome ein und mischte Medizin und Salben für Brustwickel, doch sie halfen ebenso wenig wie die Ärzte und Apotheker. Bei ihren Brettspielen sah sie, dass seine Hände schmal und bleich geworden waren und zitterten, wenn er die Spielsteine setzte.
Ihr Vater versicherte ihr, dass er noch nicht so bald sterben werde. Und es gab Tage, an denen er aß und umherging und wieder er selbst zu sein schien und an denen sie hoffte, dass es ihm tatsächlich besser ging. Doch dann verschlechterte sich sein Zustand plötzlich und als sie einen Diener nach dem Priester schicken wollte, schüttelte er den Kopf. Als sein Leben dahinschwand, nahm er ihre Hand und sagte, er habe es einst bedauert, keinen Sohn zu haben, doch schon lange empfinde er dies nicht mehr als einen Verlust. Er gab ihr seinen Segen, erzählte ihr, sie sei die Letzte einer angesehenen Familie und nahm ihr das Versprechen ab, sich niemals für ein religiöses Leben im Zölibat zu entscheiden, sondern zu heiraten und Kinder zu haben, auf dass ihr Geschlecht nicht aussterben möge.
Esperanza bat ihn, ihr von ihrer Mutter zu erzählen, bevor es zu spät sei, doch ihr Vater bedeutete ihr zu schweigen. Nach Luft ringend hielt er drei Finger hoch, um ihr zu zeigen, dass er ihr drei Dinge sagen müsse. Erstens: Sie sei die Erbin seines gesamten Vermögens und müsse immer auch an die Armen denken, Wohltätigkeit sei eine Pflicht. Zweitens: Damit sie nicht das Opfer von Glücksrittern und Mitgiftjägern würde, habe er sie der Obhut eines Freundes anvertraut, eines Edelmannes, der für seine Frömmigkeit bekannt sei und geschworen habe, einen passenden Ehemann für sie zu finden. Esperanza müsse versprechen, sich der Entscheidung dieses Vormundes zu fügen und sich nicht von mädchenhaften Vorstellungen leiten zu lassen, wie sie in Rittergedichten und -geschichten stünden. Mit seinem letzten rasselnden Atemzug flüsterte Esperanzas Vater: »Drittens … deine Mutter … Don Jaime … frage Don Jaime.«
Nach dem Tod ihres Vaters gebot es der Anstand, dass sie sich im Haus ihres Vormundes niederließ. Dort bemerkte sie bald, dass das Vertrauen ihres Vaters in ihren Vormund fehl am Platze gewesen war. Er war zwar ein Edelmann, nach außen hin fromm und ein Gönner vieler wohltätiger Einrichtungen, war aber weniger wohlhabend, als es den Anschein hatte, und weniger ehrlich. Trotz seiner unterwürfig vorgebrachten Trauerbekundungen war Esperanza nicht wohl in ihrer Haut.
Sie ging ihm und seiner Frau nach Möglichkeit aus dem Weg, blieb in ihren Zimmern und vertiefte sich in ihre Bücher. Eines Tages wurde sie von einem Diener zu ihrem Vormund gerufen. Esperanza rechnete damit, von ihrer bevorstehenden Verlobung zu erfahren, und wappnete sich innerlich. Doch als sie mit ihrer Gouvernante den Salon betrat, fand sie ihren Vormund aufgebracht auf und ab schreitend vor. Er ging direkt auf sie zu und schob sein wütendes Gesicht vor ihres. Dabei schrie und fluchte er so wüst, dass ihr Speicheltropfen in die Augen sprühten. Esperanza und ihr Vater seien verlogene Ketzer, brüllte er. Entsetzt und
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