Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
vor den Würdenträgern auf dem Podium. Dahinter folgte eine langsamere, düsterere Prozession – barfüßige Männer, Frauen und Kinder, die alle die gleichen Büßergewänder trugen und Kerzen in den Händen hielten. Die Menge winkte und rief ihnen zu, höhnte und grölte. Eine schöne junge Frau, ungefähr so alt wie Menina, sah sie mit schreckgeweiteten Augen an. Mit feierlicher Stimme wurden Namen vorgelesen und die Leute mit den Kerzen in den Händen schrien auf und weinten. Die junge Frau in Meninas Alter fiel vor dem Podium auf die Knie und flehte eine Frau an, die eine Krone auf dem Kopf trug. Sie war Jüdin, weil sie nie einen anderen Glauben kennengelernt hatte, doch sie war eine getreue Spanierin, würde bald heiraten, habt Gnade …
»Ketzer!«, schrie der Busfahrer. »Verbrennt sie!« Er leckte sich die Lippen, als die Soldaten begannen, die Prozession in die Mitte der Plaza zu stoßen.
»Jetzt wird ’ s lustig!«, rief der Busfahrer. Erst herrschte Stille, dann ein Trommelwirbel und dann war alles voller Feuer … Ihr Gesicht war schon ganz heiß von dem Feuer, als Menina durch ihre eigenen Entsetzensschreie aufwachte, sich in den Seilen wand, die sie fesselten, in dem verzweifelten Versuch, den Flammen zu entkommen, die um ihre Füße züngelten. Sie setzte sich in dem schmalen Bett auf. Zitternd rieb sie sich die Augen, um den Albtraum zu vertreiben. Nur ein Traum, sagte sie sich immer wieder. Trotzdem lag sie für den Rest der Nacht wach und kämpfte gegen den Schlaf an, damit der Traum nicht wiederkehrte.
KAPITEL 12
Aus der Chronik der Sors Santas de Jes ú s, Kloster Las Golondrinas, Andalusien, Herbst 1548
Deo gratias , endlich habe ich eine Gehilfin im Skriptorium. Nicht eine der Novizinnen, sondern ein achtzehnjähriges Mädchen, das an unserem Tor zusammenbrach, bevor die Herbststürme einsetzten. Sie trug grobe Knabenkleidung, sie war von Läusen übersät, sie war krank und nahezu bewusstlos. Ihre Gefährtin, ein Mädchen aus den Bergen mit dem Namen Mar í a, musste sie eigenhändig die Oliventerrasen hinaufgezerrt haben. Von Mar í a erfuhren wir, dass das Mädchen Esperanza hieß. Sie sei in Gefahr, sagte sie, und sie bat die Damen von den Schwalben, ihr zu helfen. Mar í a selbst wollte nicht bleiben und etwas zu sich nehmen oder ausruhen. Sie hatte es eilig, weiterzukommen, sagte, sie hoffe, bald verheiratet zu sein.
Esperanza lag viele Wochen im Hospital, bevor sie uns mehr erzählen konnte. Sie war ausgemergelt und schwach, dann fantasierte sie im Fieber, weil sie so lange der Kälte ausgesetzt war. Sie redete wirr von einem Geheimnis, das ihr Angst mache. Wenn ich an der Reihe war, bei ihr zu sitzen, versuchte ich, sie zu beruhigen und sie zu trösten und ihr immer wieder zu versichern, dass sie in Sicherheit sei. Als sie schließlich soweit genesen war, dass sie aufstehen konnte, hatte ich sie längst lieb gewonnen. Irgendwie füllte sie die Leere aus, die Salomé in meinem Herzen hinterlassen hatte.
Esperanza suchte die Äbtissin auf, überreichte ihr einen Geldbeutel mit reales und sagte, sie könne für ihre Unterkunft bezahlen, wenn sie bleiben dürfe, bis es Sommer wurde. Bis dahin wolle sie gerne jede Arbeit verrichten, die man ihr zuweise, in der Küche oder im Waschhaus oder an einer anderen Stelle.
»Meine Liebe, Ihr könnt so lange bleiben, wie es nötig ist. Unser Orden ist dem Schutz der Frauen verpflichtet und mir scheint, dass Ihr vor irgendetwas schreckliche Angst habt – obwohl Ihr auch in Euren fiebrigsten Augenblicken nicht sagtet, was es ist«, meinte die Äbtissin. »Und was Eure Arbeit hier angeht …« Die Äbtissin nahm Esperanzas Hände und besah sie sich genau. Es sei offenkundig, dass sie noch nie Töpfe gescheuert oder Kleider gewaschen habe, sagte sie, und sie bezweifle, dass Esperanza bei niederen Arbeiten von großem Nutzen sein würde. Rasch fragte ich, ob sie sich im Skriptorium als meine Gehilfin betätigen könne. Während ihrer Genesung hatte ich genug Zeit mit ihr verbracht, um herauszufinden, dass sie nicht nur klug, sondern auch gebildet war. Ich hatte sie ein oder zwei Briefe für mich abschreiben lassen und ihre Schrift war hervorragend.
»Es ist ungewöhnlich, dass jemand, der nicht in unseren Orden aufgenommen wurde, Einblicke in unsere Angelegenheiten bekommt … doch, Esperanza, Ihr scheint verschwiegen genug zu sein, was Eure eigenen Geheimnisse angeht. Kann ich auf Eure Verschwiegenheit vertrauen, wenn es um unsere
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