Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
errötete. Die Äbtissin beugte sich über das Zwergenkind, legte ihm die Hand unter das Kinn und hob sein Gesicht ein wenig, sodass das Licht darauffiel. Das Kind zuckte zurück und der Grund für die mühsam unterdrückte Wut der Äbtissin wurde nur allzu deutlich sichtbar. Um die Nase herum konnten wir Spuren von Abschürfungen erkennen und was zunächst wie eine Hasenscharte ausgesehen hatte, war eine schlecht verheilte Narbe, wahrscheinlich die Folge eines Schlages, bei dem die Oberlippe gespalten worden war. Mit großen schreckerfüllten Augen blickte es uns eine nach der anderen an. Sein Gesicht war schmutzig, das Haar matt und verlaust. Die Miene der Äbtissin wurde sanft. »Kind, hier bist du in Sicherheit. Niemand wird dich schlagen. Aber kannst du uns nicht deinen Namen nennen und uns sagen, wie alt du bist?«
Das Kind schwieg.
»Wer hat dich hergebracht?« Das Zwergenmädchen griff in die Tasche seines Kleides und zog ein gefaltetes Papier hervor, das sie der Äbtissin reichte. Dann senkte es den Kopf wie ein Tier, das auf den nächsten Tritt wartet.
Die Äbtissin faltete das Papier auf und las vor:
Hochgeschätzte Schwestern, ich habe eine weite Reise unternommen, um meine Enkeltochter Luz Eurer Gnade und Pflege anzuvertrauen. Es gibt niemanden sonst, an den ich mich wenden kann. Ich werde bald sterben und kann sie nicht länger beschützen. Durch die Umstände seiner Geburt hat dieses Kind schreckliches Unrecht erlitten. In unserer Familie ist es seit Langem üblich, dass Cousinen und Cousins untereinander heiraten, um das Vermögen und den Besitz der Familie zu bewahren, und mein einziges Kind, meine Tochter, wurde mit einem Cousin verheiratet, der sie liebte, seit sie ein Kind war. Er betete sie an, sie war ihm eine gute Ehefrau ohne Fehl und Tadel und allen Dienern des Hauses eine gütige Herrin – auch dem schelmischen Zwerg, den ihr Mann hielt, und der dafür bekannt war, dass er den Küchenmädchen nachstellte. Dann gebar sie ihr erstes Kind, das Ihr hier seht. Von dem Augenblick an, als das arme Kind auf der Welt war, war das Glück meiner Tochter zerstört. Als mein Schwiegersohn die arme Luz sah, war er außer sich vor Wut. Er war überzeugt davon, dass mein Mädchen ihn mit seinem Zwerg hintergangen hatte. Meine Tochter beteuerte ihre Unschuld, doch man zerrte sie an den Haaren vom Kindbett und sperrte sie als Ehebrecherin ein. Nur einen Priester durfte sie noch sehen, um ihre Beichte abzulegen, und dann überließ man sie dem Tod.
Als ich erfuhr, was geschehen war, eilte ich zu meinem Schwiegersohn, um ihm zu sagen, dass, obwohl nie darüber gesprochen wurde, die Frauen in unserer Familie immer wieder Zwerge zur Welt gebracht hatten. In fast jeder Generation war es so und die Kinder wurden versteckt gehalten. Er wollte mir nicht zuhören und erlaubte mir nicht, meine Tochter zu sehen. Das arme Mädchen starb allein, eingesperrt in ihrem Gemach, in einer Blutlache, wie mir die Diener berichteten, die sie fanden. Der unglückliche Zwerg wurde nie wieder gesehen.
Ich bat mächtige Männer, die ich kannte, den Tod zweier unschuldiger Menschen zu untersuchen, doch sie alle wollten damit nichts zu tun haben. Ein Mann dürfe die Angelegenheiten in seiner Familie nach eigenem Gutdünken regeln, sagten sie, und wenn er seiner Frau Unrecht tue, müsse er es mit seinem Gewissen abmachen. Er solle beichten und Buße tun.
Eine Frau gilt nichts, sie ist Staub unter den Füßen der Männer, es gibt keine Gerechtigkeit für meine Tochter! Ich bat meinen Schwiegersohn, mir das Kind zu überlassen, doch der vermutete Betrug machte ihn irre, und er schwor, dass er diese Kreatur leiden lassen würde. Ich durfte im Haus bleiben, um es mit anzusehen. Ich blieb in der Hoffnung, das arme Kind vor seinem Vater schützen zu können, doch es gelang mir nur selten. Mit der Zeit wurde der Mann immer schlimmer, er hat Luz wie einen Hund behandelt – hat sie geschlagen, getreten, verhöhnt. Sie durfte noch nicht einmal ihre Gebete lernen, musste am Feuer auf einem Strohlager schlafen und bekam nur Küchenabfälle zu essen. Dennoch ist Luz als Erstgeborene die Erbin seines gesamten Vermögens, so ist es in der Familie üblich. Er wagt nicht, sie zu töten, denn er beabsichtigt, sie mit einem verwaisten Cousin zu verheiraten und sich ihr gemeinsames Vermögen zu sichern.
Als mein Schwiegersohn für einige Wochen zu einer Jagdgesellschaft aufbrach, nahm ich Luz und floh. Ich hatte gehört, dass verzweifelte
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