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Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)

Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)

Titel: Das Zeichen der Schwalbe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Bryan
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einem Sessel war die Armlehne abgefallen. Ein löchriger Tischläufer mit Stickereien zierte einen schweren Holztisch, der unter der staubigen Gipsstatue der Jungfrau Maria und zwei Kerzenleuchtern mit dicken, schief stehenden Kirchenkerzen an der Wand stand. Der modrige Geruch, der das ganze Kloster durchzog, war atemberaubend, und die Stille war so schwer, dass man glaubte, sie greifen zu können.
    »Wie lange ist es her, dass dieser Raum benutzt wurde?«, fragte Menina und sah sich um.
    »Viele Jahre. Ist kalt im Winter. Aber ich glaube, das Bild von Trist á n Mendoza war in diesem Raum.«
    »Wissen Sie noch, wo es war, Sor Clara?«, fragte Menina schwach und blickte entmutigt auf die Wände, an denen wahrscheinlich Hunderte von Bildern hingen, allesamt dunkel vor Schmutz und Alter. Das war wie die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Sor Clara ging mühsam zu einem der unbequem aussehenden Sofas, setzte sich und sah Menina erwartungsvoll an.
    »Sor Clara, wissen Sie, an welcher Wand es hing?«
    »He?« Sor Clara legte die Hand hinters Ohr, um besser hören zu können. Menina wiederholte die Frage und schrie die alte Frau dabei fast an. Sor Clara verdrehte nur die Augen und zuckte mit den Schultern.
    »Hm, diese Frage hätte ich mir sparen können«, sagte Menina zu sich. Sie entschied sich für einen kleinen Bilderrahmen, hob ihn vorsichtig von der Wand, nahm ein Stück Brot und begann, es weichzukneten. Dann drückte sie es sachte auf die Oberfläche des Bildes. Das Brot nahm den Schmutz auf, bis es schließlich in einzelne Krümel zerfiel. Menina trat einen Schritt zurück, betrachtete das Bild und konnte eine Hand ausmachen. Hastig fuhr sie fort, die Oberfläche mit mehr Brot zu bearbeiten, bis sie denselben Mönch mit seiner Tonsur, seiner krummen Nase und den kleinen Schweinsäugelchen erkannte, den sie am Tag zuvor gesehen hatte. Hier war er aus einer anderen Perspektive dargestellt. Menina trug das Bild in die Mitte des Raumes und suchte den unteren Rand nach einer Signatur ab, konnte aber nichts erkennen, kein Zeichen, keinen Namen und auch keinen Vogel. Sie wünschte, sie hätte eine Lupe. Sor Clara schlief mit offenem Mund, den Rosenkranz auf dem Schoß, und schnarchte leise.
    Menina stellte den Mönch so ab, dass er nicht im Sonnenlicht stand, nahm ein weiteres Bild von der Wand und bearbeitete es so schnell wie möglich. Es würde Monate dauern, wenn man jedes einzelne Bild prüfen wollte.
    Einige Stunden vergingen und Sor Clara rührte sich nicht. Menina machte sich Sorgen, die alte Nonne könnte womöglich tot sein, und sah nach, ob sie noch atmete, doch dann fiel ihr ein, dass sie wahrscheinlich wegen der Nachtwachen so müde war. Inzwischen lehnte ein halbes Dutzend düsterer Bilder in unterschiedlichen Größen an der Wand. Menina trat zurück und begutachtete ihre Arbeit. Immer wieder richtete sich ihr Blick auf den Mönch und je länger sie ihn ansah, desto unbehaglicher fühlte sie sich. Sie war müde und ein bisschen durcheinander und wahrscheinlich reagierte sie deshalb so dünnhäutig, doch das Bild strahlte etwas Böses aus und es gefiel ihr nicht. Schließlich drehte sie es mit dem Gesicht zur Wand.
    Was die nächsten vier Bilder anging … Sie betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen und versuchte zu erkennen, was sie darstellten, suchte nach bekannten Motiven und Symbolen und nach Themen, die immer wieder in religiöser Kunst auftauchten, die helfen würden, das Bild zu erschließen. Im College hatten die Übungen, bei denen die Studentinnen ein Gemälde »lesen« sollten, besonderen Spaß gemacht, doch im College gab es Lehrbücher und eine Bibliothek, in der man nachlesen konnte. Hier dagegen war sie auf sich gestellt und musste sich allein auf ihre Erinnerung verlassen.
    In Holly Hill begann der Kurs über die Methodologie der Renaissance jedes Jahr mit ein und demselben Witz: Jeder, der im sogenannten »Bible Belt« aufgewachsen sei, habe einen Vorsprung, wenn es darum ging, die Motive in der Kunst der Renaissance zu erkennen. Zu ihrer eigenen Verwunderung hatte Menina festgestellt, dass es sich tatsächlich gelohnt hatte, jahrelang die Sonntagsschule der Baptisten besucht und zahllose Malbücher mit Geschichten aus der Bibel ausgemalt zu haben. Der Methodologie-Kurs verschaffte ihr zwar nicht mehr als ein paar Grundlagen, doch Menina liebte es, ein Gemälde nach Hinweisen auf seine geheime Botschaft zu untersuchen, die Bedeutung von Licht, Schatten und Farben und die

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