Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
eines Tages war ihr Hunger so groß, dass sie immer wieder mehr für Essen ausgaben, als sie beabsichtigt hatten. Ihr Münzenvorrat war fast aufgebraucht, doch Mar í a ließ es nicht zu, dass sie mit einem real bezahlten. Nun überlebten sie mit ein wenig Brot und Öl und wilden Früchten.
Trotz Hunger und Erschöpfung wurde Mar í a immer zuversichtlicher. Sie zeigte auf die weißen Steine, die ihren Weg durch den Wald markierten, und ermunterte Esperanza und spornte sie unablässig an. Sie stiegen immer höher in die Berge. Die Luft wurde dünner und kühler und am weiten Himmel kreisten Adler und Falken.
Esperanza verlor jegliches Gefühl für Zeit. Ihre Füße waren wund und sie konnte an nichts anderes denken, als einen Fuß vor den anderen zu setzen, bis der Tag vorüber war. Sie konnten schon lange nichts mehr zu essen kaufen und waren auf die Wohltätigkeit der Leute in den Dörfern angewiesen. Esperanzas Füße bluteten. Sie bekam wieder Fieber. Schließlich weigerte sie sich, weiterzugehen. Sie wollte sich nur noch am Straßenrand niederlegen und sterben. Mar í a ließ sie auf einem Stein zusammengesunken zurück und kam mit einem Stück hartem Brot und einem halb verfaulten Apfel wieder, den sie aus irgendeinem Schweinetrog gestohlen hatte. Beides gab sie Esperanza und versicherte ihr, es sei nicht mehr weit, Esperanza müsse es versuchen.
Zwei Tage später gelangten sie zu einem terrassenförmig angelegten Olivenhain, der ihnen wie das Dach der Welt erschien. Nach einer Nacht im Freien waren sie steifgefroren. Mar í a stieß und zog und lockte Esperanza die Terrasse hoch bis zu einem Tor, das in eine hohe Steinmauer eingelassen war. »Hier!«, keuchte sie. »Nur noch ein kleines Stück weiter! Noch ein oder zwei Schritte« – dann ließ sie sie in den Staub sinken, um an einem Glockenstrang zu ziehen. Das Letzte, was Esperanza hörte, war das Läuten der Glocke. Sie scherte sich nicht mehr darum, ob sie lebte oder starb.
Sie erwachte, umgeben von Schwestern, die ihr die zerlumpten und verlausten Kleider vom Leib schnitten. Sie versuchte verzweifelt, sich aufzurichten. Dabei rief sie immer wieder, sie müsse fliehen, bevor sie sie mit dem Satan verheirateten. Sie flößten ihr Kräuterbrühe ein und einen beruhigenden Trank und wickelten sie in Decken, die sie an heißen Steinen erwärmt hatten. Allmählich wurde sie ruhiger. Schließlich fiel sie in einen Schlaf, der so tief war, als sei sie gestorben.
»Und sie werden mich umbringen, wenn sie mich finden«, sagte sie, als sie soweit genesen war, dass sie sprechen konnte.
»Ich weiß«, sagte die Äbtissin.
Inzwischen ist Esperanzas Haar gewachsen, ihr hageres Gesicht ist runder geworden und ist nicht mehr so bleich. Im Skriptorium ist sie zufrieden. Bei den Einträgen in die Chronik ist sie mir eine große Hilfe, wenn meine Hand und mein Handgelenk zu steif und geschwollen sind. Es ist gut, wieder ein Mädchen an meiner Seite zu haben, vor allem eines, das seine Aufgaben so gewissenhaft erledigt.
Und so arbeiteten wir ruhig im Skriptorium, bis zu einem Tag, kurz nachdem die Schwalben zurückgekehrt waren. Sie bauten ihre Nester und erfüllten dabei das Kloster mit heiterem Lärm. An diesem Tag kam ein neues Kind. Dieses Kind war keines mit Mitgift und Amme, sondern eines, das in Lumpen gehüllt am Tor zurückgelassen wurde, trotz des heftigen Regens, der die ganze Nacht hindurch niedergegangen war. Die Äbtissin schickte nach mir und – zu meiner Überraschung – nach Esperanza.
KAPITEL 13
Aus der Chronik der Sors Santas de Jes ú s, Kloster Las Golondrinas, Andalusien, Frühjahr 1549
Zuerst bemerkten wir das Kind mit dem Kopf und dem Ge sicht eines Erwachsenen gar nicht, das da auf einem kleinen Hocker zu Füßen der Äbtissin saß. Luz spricht nicht und sie kann über Stunden so still dasitzen, dass sie fast unsichtbar ist. Es war seltsam, ein Kind mit der Statur eines Zwergs in einem zerlumpten Kleid und durchgelaufenen Schuhen zu sehen. Die großen Häuser rühmen sich ihrer Zwerge, sie kleiden sie in feine Stoffe und halten sie wie Schoßhunde, zu ihrem Vergnügen, so als seien sie keine menschlichen Wesen mit einer Seele. Es ist eine üble Sitte und Esperanza flüsterte mir zornig ins Ohr: »Ich hätte nie gedacht, dass sich die Äbtissin einen Zwerg hält. Eine Schande ist das!«
Die Äbtissin fuhr sie an: »Starr mich nicht so missbilligend an, Esperanza! Dieses Mädchen haben wir heute früh am Tor gefunden.«
Esperanza
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