Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
Frauen im Kloster der Schwalben Schutz und Hilfe finden, die ihnen andernorts verwehrt wird. Um der Liebe Gottes und der Jungfrau willen, habt Mitleid mit Luz und gewährt ihr Schutz, und ich werde für die verbleibenden Tage meines Irdenlebens und danach vor dem Thron des Allmächtigen für Euch beten.
Die Äbtissin faltete das Papier zusammen. »Schrecklich. Selbstverständlich nehmen wir das arme Kind auf. Wir würden auch die Großmutter aufnehmen, wenn man sie ausfindig machen könnte. Doch ich habe neben Sor Beatriz auch nach dir, Esperanza, geschickt, weil ich möchte, dass jedes Wort in der Chronik festgehalten wird, um Zeugnis abzulegen von der Unmenschlichkeit und Grausamkeit, die Frauen erleiden. Doch ich bin auch neugierig. Du hast uns erzählt, dass du gemeinsam mit deinem Vater verbotene Bücher gelesen hast. Die Mauren haben die Natur aufmerksam beobachtet und sie waren in den Naturwissenschaften bewandert. Und die Kirche hat so viele ihrer Werke verbrannt.« Das Verbrennen von Büchern ärgert die Äbtissin über die Maßen.
»Ja«, sagte Esperanza vorsichtig. »Mein Vater hatte viele Bücher über Medizin, die er mir vorgelesen hat, und ich habe jene studiert, die ich selbst lesen konnte …«
»Die Schwestern im Hospital sagen, dass du … Kannst du dich an etwas erinnern, das mit Zwergen zu tun hat?«
Esperanza dachte einen Moment nach. Dann sagte sie, ein griechischer Text über die Viehzucht habe auf die Folgen von Inzucht unter schwachen Tieren und auf die kränklichen Kälber und die dreibeinigen Ziegen hingewiesen, die dabei entstehen. Und daraus habe der Verfasser geschlossen, dass Inzucht in kleinen Gruppen von Menschen zu schwächlichem Körper und verwirrtem Geist führen könne. Dann habe er seine Beobachtungen über die Viehzucht auf Beispiele übertragen, in denen menschliche Inzucht ähnliche Folgen habe.
Das war reine Ketzerei. Die Kirche lehrt, dass die Beobachtung von Verhaltensweisen von Tieren keine Bedeutung für menschliches Leben habe, da der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen sei. Esperanzas Vater war jedoch ebenso wie der Verfasser dieser Abhandlung davon überzeugt, dass es die Ordnung der Natur sei, und die Natur war für ihn eine Offenbarung Gottes. Und der Text hatte davon gesprochen, dass Mitglieder einer Familie, in der Zwerge oder Kinder mit schwacher Wirbelsäule geboren wurden, keine Blutsverwandten heiraten sollten, auch keine Verwandten entfernten Grades. Bitter fügte Esperanza hinzu, dass die Abhandlung mit den anderen Büchern der Bibliothek ihres Vaters verbrannt worden sei. Die Äbtissin verzog das Gesicht und murmelte eine Verwünschung gegen ungebildete Narren, die Wissen unterdrückten und den Schmerz in der Welt vergrößerten, sodass unschuldigen Kindern wie Luz unermessliches Leid zugefügt würde.
»Danke, Esperanza.« Dann wandte sie sich Luz zu und sagte: »Kind, dein Name bedeutet Licht, das wunderbare Licht, das in deiner Seele leuchtet und das fortan in Sicherheit leuchten wird. Geh mit Esperanza, sie wird dafür sorgen, dass du gebadet wirst und saubere Kleider bekommst. Und dann richten wir ein kleines Bett für dich her. Du musst hungrig sein – bitte die Küchenschwester um etwas Suppe, Esperanza. Und sag ihr, dass sie noch ein Ei hineinrühren und Luz etwas Honigbrot geben soll, wenn noch welches übrig ist. Sag den Schwestern, die sich um die Kinder kümmern, dass sie diese Wunden mit Salbe versorgen sollen. Wenn Luz nicht sprechen will, müssen wir Geduld haben, sie macht es nicht aus Eigensinn.«
Es ist unmöglich zu schätzen, wie alt Luz ist. Die Äbtissin meint, sie sei vielleicht zwischen acht und zehn oder elf Jahre alt. Sie kann weder lesen noch schreiben und hat zu viel Angst vor allem, um etwas anderes als das Nähen zu lernen. Das macht sie jedoch sehr gut. Viele Mädchen werden während des langen Nähunterrichts ungeduldig, doch Luz hängt an den Lippen der Nähmeisterin und saugt jedes Wort in sich auf. Sie ist glücklich über ihren eigenen kleinen Nähkorb, mit bunten Seidenfäden, einem Nadelbuch, einer winzigen Silberschere und einem Fingerhut. Sie hält säuberlich Ordnung darin und beherrscht jeden Nähstich. Sie hat einen Hocker, der so niedrig ist, dass ihre Füße den Boden berühren, und darauf sitzt sie stundenlang und arbeitet stumm, bis sie zu den Gebeten oder den Mahlzeiten oder einem Spaziergang im Klostergarten gerufen wird. Ihre Stiche sind wunderschön, sehr ordentlich und kaum zu sehen – im
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