Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)

Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)

Titel: Das Zeichen der Schwalbe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Bryan
Vom Netzwerk:
Aussagekraft der Figurenanordnung und der Symbole zu ergründen. So stellten Lichtstrahlen, die durch ein Fenster in einen Raum strömten, das Göttliche Licht dar, das die Welt erhellt, Granatäpfel symbolisierten Fruchtbarkeit und die Auferstehung, Hunde standen für Treue und aus dem Gekrächz von Papageien hörten die Menschen im Mittelalter das Wort »Ave« heraus, als wollten sie zur Jungfrau Maria beten.
    Die Perspektive des Künstlers war jedoch nur ein Aspekt. Malen war ein Dialog zwischen dem Künstler und dem Betrachter, und um ein Bild interpretieren zu können, musste man verstehen, wie der Maler meinte, dass die Menschen seiner Zeit es verstehen würden. Und das hing von vielen unterschiedlichen Faktoren ab – von der Entstehungszeit, von Politik und religiösen Überzeugungen. Die Frage, die man stellen musste, lautete: Wo trafen sich Maler und Betrachter? Vielleicht brachte das Bild einen Stifter oder einen Gönner des Künstlers mit heiligen Figuren in Verbindung – und der Punkt, an dem Künstler und Betrachter zusammenkamen, war, dass die Heiligkeit des Heiligen durch die Assoziation auf den Stifter abfärbte. Vielleicht sollte ein Bild beim Betrachter Ehrfurcht vor der Strahlkraft von Gottes Wort hervorrufen, vielleicht vermittelte es eine Botschaft von der Macht des Lebens über den Tod oder verband einen König oder eine Königin mit Gott oder erhellte ein Wunder, von dem jeder, der in jener Zeit lebte, gewusst hätte, wie von der Verwandlung von Wasser und Kommunionswein in Körper und Blut Christi – die Möglichkeiten waren endlos, doch es war wichtig, die Botschaft zu entdecken, die ein Gemälde demjenigen mitteilte, der es betrachtete.
    Darüber dachte Menina nach, während sie ihren Notizblock aufklappte und die Kappe von einem Kugelschreiber zog. Sie würde systematisch vorgehen und jedes Bild mit einer Nummer versehen, bevor sie es reinigte, und dann kurz beschreiben, was sie sah. Dann würde sie es mit dem Dialogtest versuchen.
    Sie nahm Bild Nummer eins herunter und kniff die Augen zusammen. Wo trafen sich alle bei diesem Bild? Je länger sie es betrachtete, desto hässlicher erschien es ihr – eine mondgesichtige Madonna, deren Hände so aussahen, als seien sie nachträglich dazugemalt worden. Sie ragten seltsam verdreht aus ihren Ärmeln hervor. Entweder hatte der Maler keine Ahnung von Anatomie oder er wollte ein künstlerisches Statement abgeben, doch darüber sollte sich jemand anders den Kopf zerbrechen. Für alle Fälle tupfte sie jedoch die Ecken frei, um nach der Signatur zu sehen. Sie fand ein C und dahinter etwas, das aussah wie »Lopez«.
    Bild Nummer zwei war ebenso enttäuschend – nichtssagende Engel mit offenem Mund und flachem, leblosem Gesicht vor braunem Hintergrund. Keine Signatur. Menina stellte es neben die Madonna.
    Nummer drei war ein Stillleben mit Rosen und Lilien, die einen Hinweis auf die Jungfrau Maria gaben, wie Menina wusste. Je nachdem, wie die Details herausgearbeitet waren und wie die Farben aussahen, konnte es wertvoll sein. Sie suchte nach einer Signatur, fand ein B. und stellte es beiseite.
    Nummer vier zeigte ein schwerfälliges Kind, das ein Lamm auf den Schultern trug. Lamm und Kind hatten denselben theatralischen Schmollmund und dieselbe seelenvolle Miene. Es war so schrecklich, dass sie unwillkürlich lächeln musste. Sie stellte es zu der Madonna.
    Dreieinhalb Stunden später lehnten zwei Dutzend Bilder wild durcheinander an den Wänden und Menina war vollkommen verdreckt. Sie fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn. Keines der Bilder sah besonders vielversprechend aus – vielleicht ein bisschen besser oder zumindest älter als die, die in den Gängen hingen –, doch sie war sich sicher, dass nichts von dem, was sie bisher gesehen hatte, viel wert war. Sie richtete sich auf, reckte sich und sah sich noch einmal die Wände an. Inzwischen war es früher Nachmittag und im Raum war genügend Licht, um zu erkennen, dass ein großer schwarzer Rahmen, der etwa auf Augenhöhe hing, ein buckliges Muster aufwies.
    Sie betrachtete den Rahmen aus der Nähe, dann kratzte sie mit dem Fingernagel darüber und hinterließ eine feine graue Spur. Menina spuckte auf den Rahmen, hauchte ihn an und rieb mit dem Ärmel ihres Sweatshirts darüber, bis der Ärmel schmutzig war und die Stelle, an der sie gerieben hatte, matt schimmerte. Nicht vergoldet, wie sie gedacht hatte, sondern aus Silber. Venezianisch? Ein silberner Rahmen war doch sicher ein Hinweis

Weitere Kostenlose Bücher