Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
darauf, dass das Gemälde darin nicht allzu schlecht war. Sie sah es sich genauer an. Unter dem stumpfen Belag konnte sie ein kunstvolles Muster aus Weinranken erkennen. »Oh!«, rief sie plötzlich. Zwischen den Ranken sah sie kleine Vögel mit gegabelten Schwänzen.
Sie wankte unter dem Gewicht des Rahmens, als sie ihn abhängte und ihn an die Wand lehnte. Dann machte sie sich an die Arbeit. Allmählich konnte sie eine Ansammlung von Menschen ohne Gesicht ausmachen. Nein, an der Seite waren Gesichter im Profil zu sehen. Die anderen waren nicht gesichtslos, vielmehr zeigte das Bild sie von hinten. Sie blickten auf die rechte Mitte, wo etwas Helles war, etwas, das wie zwei Gestalten aussah … Dort in der Mitte passierte etwas … Sie konnte etwas sehen, das an ein bandagiertes Bein erinnerte. War das krumme Ding da eine Krücke?
Unter dem Schmutz kamen verstörende Gesichter zum Vorschein, manche im Profil, manche schief dargestellt – groteske Gesichter, Gesichter von Syphiliskranken oder Betrunkenen oder so etwas. Die Nasen waren zu kurz und zu breit, die Nasenlöcher verzerrt, die Münder standen offen. Es waren kranke und müde und verrückte Gesichter, geschwollene und zerschlagene Gesichter, von Hunger und einem harten Leben entstellt, eine Ansammlung leidender Menschen, die alle angespannt auf etwas blickten. Auf jemanden, der auf so etwas wie einer Bahre lag. Ein Skelett. Und am unteren Rand des Bildes bewegte sich etwas. Unter der jahrhundertealten Schmutzschicht wurden Dämonen sichtbar, die Körper wie Reptilien und menschenähnliche Gesichter hatten und Menina mit boshaften gelben Augen unbeirrt anstarrten, selbst wenn sie zwischen den Beinen der Menschen weghuschten, weg von dem, was sich in der Mitte des Bildes abspielte.
Menina wusste sofort, was das Gemälde darstellte – es war die Geschichte aus der Bibel, in der Jesus heilt und die Dämonen austreibt. Sie arbeitete weiter, bis sie zwei Gestalten in der Mitte des Bildes erkennen konnte. Zwei Männer im Profil? Nein, es sah aus wie ein Mann und eine Frau. Mit einem Rest Brot betupfte sie die untere linke Ecke. Und als das letzte Stück zu krümeln begann, meinte sie, ein T zu sehen. Dann ein r .
Das war unmöglich, ermahnte sie sich und dreht das Bild so, dass das Licht darauffiel. War das tatsächlich ein T ? Und ein großes M ? Inzwischen war sie so weit, dass sie den Schmutz sogar mit der Zunge abgeleckt hätte, um es herauszufinden, wenn das den Farben nicht so sehr geschadet hätte. In ihrer Aufregung sammelte sie verdreckte Brotkrümel vom Boden auf und rieb damit über das Bild, sicherlich ein wenig heftiger, als man es bei einem alten Gemälde normalerweise tun sollte. Und da – sie konnte es nicht glauben, rieb sich die Augen – da war ein kleiner Klecks. Ruhig, ganz ruhig, ein Klecks ist schließlich nur ein Klecks … Wenn er nicht eine Schwalbe ist! Sie machte weiter, bis sie erst T-r-i-s , dann M-e-n-d erkennen konnte, und hörte dann auf zu reiben, um keinen irreparablen Schaden anzurichten.
Sie richtete sich auf und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Sie, Menina Ann Walker, neunzehn Jahre alt, hatte gerade eine Entdeckung gemacht, eine Entdeckung, die in der Kunstwelt für Aufsehen sorgen würde. Eine Entdeckung – einfach so! Peng! Kunsthistoriker versuchten ein ganzes Berufsleben lang, das zu tun, was sie gerade getan hatte. »Ich glaub es einfach nicht«, murmelte sie immer wieder. Dann boxte sie mit der Faust in die Luft und rief: »Ja!« Was würden Becky und ihre Lehrer am College von Holly Hill und ihre Eltern erst dazu sagen! Ja! Sie war so aufgeregt, dass sie einen kleinen Siegestanz improvisierte und dann »Sor Clara! Sor Clara? Wachen Sie auf! Ich habe gute Nachrichten!« rief und der alten Nonne dabei auf den Arm klopfte. Sor Clara gab einen lauten Schnarcher von sich und wachte auf. »Äh?«, fragte sie verwirrt.
Auf Spanisch sagte Menina sehr laut: »Ich habe den Trist á n Mendoza gefunden! Ich habe ihn gefunden! Ich habe ihn wirklich gefunden! Er war tatsächlich hier, genau wie Sie gesagt hatten. Und ich habe ihn gefunden! Danke! Danke!«
»Deo gratias …« , murmelte Sor Clara und rieb sich die Augen.
Im Gang waren Schritte zu hören. Sor Teresa rauschte herein und verkündete, Meninas Essen warte auf sie und sie müssten sich beeilen. Sor Clara werde zum Stundengebet erwartet und sie selbst müsse zurück in die Küche, weil dort die polvor ó nes im Ofen seien. Alle Welt wolle polvor ó nes und
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