Das Zeichen der Vier
Rekonvaleszent zu leben.«
Draußen stand die Kutsche für uns bereit, und offenbar war unser Programm schon vorher abgesprochen worden, denn der Kutscher fuhr unverzüglich in scharfem Trab ab. Thaddeus Sholto redete in einem fort, und seine hohe, durchdringende Stimme übertönte das Rattern der Räder.
»Bartholomew ist ein schlauer Bursche«, sagte er. »Was denken Sie wohl, wie er herausgekriegt hat, wo der Schatz versteckt war? Er war zu dem Schluß gekommen, daß das Versteck irgendwo im Innern des Hauses sein mußte. Er berechnete also den Rauminhalt des Hauses und nahm überall Messungen vor, so daß kein Zoll unberücksichtigt blieb. Dabei fiel ihm auf, daß die Höhe des Gebäudes vierundsiebzig Fuß betrug, während die Addition der Höhe der einzelnen übereinanderliegenden Räume nicht mehr als siebzig Fuß ergab, obwohl er die Decken dazwischen, deren Dicke er durch Bohrungen ermittelt hatte, einkalkuliert hatte. Es gab also irgendwo vier Fuß, die von seinen Messungen nicht erfaßt worden waren. Die konnten sich nur zuoberst im Haus befinden. Deshalb schlug er ein Loch in die Putzdecke eines der Zimmer im obersten Stockwerk, und zum Vorschein kam tatsächlich eine kleine zugemauerte Dachkammer, von der niemand etwas gewußt hatte. In der Mitte auf zwei Dachbalken stand die Schatztruhe. Er ließ sie durch das Loch in der Decke herunter, und da steht sie jetzt. Er veranschlagt den Wert der Juwelen auf mindestens eine halbe Million Sterling. 14 «
Als er diese gigantische Summe nannte, starrten wir uns alle mit großen Augen an. Wenn wir Miss Morstans Anspruch durchsetzen konnten, würde aus einer darbenden Gesellschafterin die reichste Erbin Englands. Es ziemte sich freilich für einen treuen Freund, auf diese Nachricht hin in Jubel auszubrechen; und doch muß ich zu meiner Beschämung gestehen, daß Selbstsucht von meiner Seele Besitz ergriff und daß mir das Herz schwer wie Blei wurde. Ich stammelte ein paar holprige Worte der Gratulation und saß dann niedergeschlagen und mit hängendem Kopf da, taub für das Geplapper unseres neuen Bekannten. Er war offensichtlich ein ausgemachter Hypochonder, und ich nahm verschwommen wahr, daß er einen endlosen Schwall von Symptomen auf mich niedergehen ließ und mich um Auskunft über die Zusammensetzung und Wirkungsweise unzähliger Wundermittel bat, von denen er ein paar in einem Lederetui in seiner Tasche bei sich trug. Ich hoffe, er hat die Ratschläge, die ich ihm in jener Nacht gab, gleich vergessen. Holmes behauptet nämlich, gehört zu haben, daß ich ihn eindringlich davor warnte, mehr als zwei Tropfen Rizinusöl einzunehmen, während ich andererseits große Dosen von Strychnin als Beruhigungsmittel empfahl. Wie dem auch sei, ich war jedenfalls froh, als unser Wagen mit einem Ruck anhielt und der Fahrer vom Kutschbock sprang, um uns den Verschlag zu öffnen.
»Miss Morstan, das ist
Pondicherry Lodge«,
sagte Mr. Thaddeus Sholto und reichte ihr die Hand zum Aussteigen.
5. Die Tragödie von Pondicherry Lodge
Es war beinahe elf Uhr, als wir diese letzte Station unseres nächtlichen Abenteuers erreichten. Wir hatten den feuchten Nebel der großen Stadt hinter uns gelassen, und die Nacht war ziemlich mild. Ein warmer Wind wehte von Westen her, und am Himmel zogen schwere Wolken gemächlich dahin, zwischen denen von Zeit zu Zeit der Halbmond hervorlugte. Es war hell genug, um auf einige Entfernung sehen zu können, aber Thaddeus Sholto nahm eine der Seitenlaternen von der Kutsche mit, um uns auf dem Weg voranzuleuchten.
Pondicherry Lodge
stand auf einem Grundstück, das von einer sehr hohen, mit Glasscherben besetzten Steinmauer umgeben war. Eine schmale, einflügelige, eisenbeschlagene Tür bildete den einzigen Zugang. Daran pochte unser Führer mit einem eigenartigen Klopfzeichen 15 , das sich ein wenig wie das eines Postboten anhörte.
»Wer da?« rief eine barsche Stimme von innen.
»Ich bin’s, McMurdo. Mein Klopfen sollten Sie doch allmählich kennen.«
Man vernahm ein Brummen und dann ein Klirren und Scharren von Schlüsseln. Die Tür schwang schwerfällig zurück, im Eingang erschien ein untersetzter Mann mit einem mächtigen Brustkasten und blinzelte mit vorgerecktem Kopf mißtrauisch in den gelben Lichtstrahl unserer Laterne.
»Sie sind’s, Mr. Thaddeus! Aber wer sind die andern da? Was die angeht, so hab ich keine Anweisungen vom Herrn.«
»Wirklich nicht, McMurdo? Das erstaunt mich aber! Ich habe meinem Bruder gestern abend nämlich
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