Das Zeichen der Vier
abzuschweifen. Es war offensichtlich, daß der beißende Gestank des Kreosots aus all den anderen widerstreitenden Gerüchen deutlich hervorstach.
»Glauben Sie bloß nicht«, sagte Holmes, »daß mein Erfolg in diesem Fall allein dem glücklichen Zufall zu verdanken ist, daß einer dieser Burschen mit dem Fuß in die chemische Substanz getappt ist. Ich verfüge mittlerweile über eine solche Fülle an Informationen, daß ich imstande wäre, die Kerle auf die verschiedensten Arten aufzuspüren. Diese ist indessen die rascheste, und da das Schicksal sie uns nun einmal in die Hände gespielt hat, wäre es sträflich, sie nicht anzuwenden. Allerdings hat sich der Fall aus eben diesem Grund nicht zu der hübschen kleinen Denkaufgabe entwickelt, die er eine Zeitlang zu werden versprach. Es wäre wohl einiger Ruhm damit zu ernten gewesen, wäre da nicht diese allzu handfeste Spur.«
»Aber Sie werden noch Ruhm ernten, mehr als genug«, entgegnete ich. »Ich kann Ihnen versichern, Holmes, daß die Mittel, die Sie anwenden, um zu Ihren Resultaten zu gelangen, mir in diesem Fall noch weit mehr Bewunderung abringen als in der Mordsache Jefferson Hope. Die ganze Angelegenheit erscheint mir noch undurchsichtiger und rätselhafter. Wie war es Ihnen beispielsweise möglich, den Mann mit dem Holzbein mit solcher Sicherheit zu beschreiben?«
»Pah, mein Junge, nichts einfacher als das. Ich will Ihnen nichts vormachen. Es liegt alles ganz klar und offen zutage. Zwei Offiziere, die den Oberbefehl über die Wachmannschaft einer Sträflingskolonie haben, erfahren von einem bedeutenden Geheimnis, einem vergrabenen Schatz. Ein Engländer namens Jonathan Small fertigt einen Plan für die beiden an. Sie erinnern sich doch, der Name stand auf der Zeichnung, die in Captain Morstans Besitz war. Small hatte das Papier in seinem Namen und in dem seiner Genossen – im Zeichen der Vier, wie er es ein wenig dramatisch nannte – unterzeichnet. Mit Hilfe dieser Karte gelingt es den Offizieren – oder einem von ihnen –, den Schatz zu finden und nach England zu schaffen, wobei, wie wir annehmen müssen, irgendeine Bedingung, unter der die Karte ausgehändigt wurde, nicht erfüllt wird. Und warum hat Jonathan Small den Schatz nicht selber geborgen? Die Antwort liegt auf der Hand. Die Zeichnung datiert aus einer Zeit, da Morstan durch seinen Beruf in engen Kontakt mit Sträflingen kam. Jonathan Small hat den Schatz mithin deshalb nicht geborgen, weil er und seine Genossen selber Sträflinge waren und sich nicht frei bewegen konnten.«
»Aber das ist reine Spekulation«, wandte ich ein.
»Es ist mehr als das. Es ist die einzige Hypothese, die sich mit den Fakten deckt. Jetzt wollen wir sehen, wie sie zur Fortsetzung unserer Geschichte paßt. Major Sholto lebt einige Jahre lang in Ruhe und Frieden und erfreut sich seines Schatzes, bis er eines Tages einen Brief aus Indien erhält, der ihn zu Tode erschreckt. Was mag das für ein Brief gewesen sein?«
»Eine Nachricht, daß die Männer, die er betrogen hatte, freigelassen worden seien.«
»Oder geflüchtet. Das ist sehr viel wahrscheinlicher, denn er wird wohl gewußt haben, wie lange ihre Strafe bemessen war. Ihre Freilassung hätte ihn nicht überraschen können. Was tut er daraufhin? Er rüstet sich gegen einen Mann mit einem Holzbein – einen weißen Mann, wohlgemerkt, denn er hält einen weißen Handelsreisenden für den Befürchteten und gibt sogar einen Schuß aus seiner Pistole auf ihn ab. Nun ist aber auf dem Plan nur ein einziger Name, der einem weißen Mann gehören kann. Alle anderen sind Hindus oder Mohammedaner. Es gibt keinen zweiten Weißen. Folglich können wir mit absoluter Sicherheit sagen, daß der Mann mit dem Holzbein mit Jonathan Small identisch ist. Erscheint Ihnen dieser Gedankengang fehlerhaft?«
»Nein, er ist klar und einleuchtend.«
»Gut; dann wollen wir uns nun einmal in Jonathan Smalls Lage versetzen und die ganze Angelegenheit aus seinem Blickwinkel betrachten. Er kommt mit der zwiefachen Absicht nach England, das zurückzugewinnen, was ihm seiner Meinung nach rechtens zusteht, und sich an dem Mann zu rächen, der ihn hintergangen hat. Er findet heraus, wo Sholto lebt, und nimmt höchstwahrscheinlich mit jemandem im Haus Verbindung auf. Da ist dieser Diener, Lal Rao, den wir nicht gesehen haben. Laut Mrs. Bernstone ist sein Charakter alles andere als gut. Es gelingt Small jedoch nicht, herauszufinden, wo der Schatz versteckt ist, denn außer dem Major und
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