Das Zeichen des Vampirs - The Society of S
gerechnet.«
Ich erwiderte sein Lächeln, aber es war das schulmeisterhafte Lächeln, das ich von ihm gelernt hatte - trocken und schmallippig, das nichts mit seinem schüchternen Lächeln echter Freude zu tun hatte. »Für mich ist Poe Geschmackssache«, sagte ich. »Man mag ihn oder man mag ihn nicht.«
»… oder man mag ihn nicht.« Er verschränkte die Finger ineinander. »Ich stimme selbstverständlich zu, dass sein Stil blumig, sogar gestelzt ist. Diese ganzen Kursivsetzungen!« Er schüttelte den Kopf. »Wie einer seiner Dichterkollegen sagte, war Poe zu drei Fünfteln ein Genie und zu zwei Fünfteln ein Schwindler.«
Darüber musste ich lächeln (wirklich lächeln).
»Trotzdem eignet sich seine Manieriertheit dafür, dem Leser dabei zu helfen, die vertrauten Grenzen der prosaischen Welt zu überschreiten«, fuhr er fort. »Und ich bin der Ansicht, dass es für uns einen gewissen Trost bedeutet, Poe zu lesen.«
Nie zuvor hatte er in so einer persönlichen Weise über Literatur gesprochen. »Trost?«
»Nun.« Ihm schienen die Worte zu fehlen. »Weißt du.« Er schloss die Augen und sagte: »Man könnte wohl sagen, dass er einen Zustand beschreibt, in dem ich mich manchmal befinde.« Dann öffnete er wieder seine Augen.
»Blumig?«, sagte ich. »Gestelzt?«
Er nickte.
»Wenn du wirklich so fühlst, dann zeigst du es aber nicht.« Etwas in mir staunte: Mein Vater spricht über seine Gefühle?
»Ich versuche, es nicht zu zeigen«, sagte er. »Weißt du, Poe war praktisch Waise. Seine Mutter starb, als er noch sehr jung war. Er wurde in John Allans Familie aufgenommen, aber nie offiziell adoptiert. Sein Leben und seine Arbeit spiegeln die klassischen Symptome eines verlassenen Kindes wider: die Unfähigkeit, den Verlust der Eltern zu akzeptieren, die Sehnsucht nach dem Tod, die Neigung, der Fantasie den Vorzug vor der Realität zu geben. Um es kurz zu machen: Poe war einer von uns.«
Unsere Unterhaltung endete abrupt, als Mary Ellis Root laut an die Tür der Bibliothek klopfte. Mein Vater ging hinaus, um zu fragen, was sie wollte.
Ich glühte vor Aufregung darüber, so viele unerwartete Informationen erhalten zu haben: Einer von uns? Mein Vater war auch ein »verlassenes Kind«?
Aber mehr erfuhr ich an diesem Tag nicht über ihn. Was auch immer Root nach oben geführt hatte, es brachte ihn dazu, mit ihr ins Kellergeschoss zu gehen. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, als ich in mein Zimmer ging.
Ich dachte daran, wie mein Vater mir Annabel Lee vorgelesen hatte, und erinnerte mich an Poes Worte in The Philosophy of
Composition : »Der Tod einer schönen Frau ist zweifellos das Poetischste und ein trauernder Liebender der passendste Träger des poetischen Begriffs.«
Und ich dachte an Morella, meine Mutter und mich.
Kurz darauf rief Kathleen an. Das neue Schuljahr hatte begonnen und seit dem letzten Tag auf der Rennbahn hatte ich sie nicht sehr oft gesehen. Sie sagte, dass sie am Nachmittag keinen Unterricht hätte und mich sehen müsse.
Wir trafen uns im Belvedere am Ende des Gartens hinter unserem Haus. Ich habe diesen Ort bisher noch nicht erwähnt, oder? Es war eine Art offener, sechsseitiger Pavillon mit einer kleinen Kuppel und einem runden Dach, das dem größeren Dach unseres Hauses nachempfunden war. Die einzigen Möbel waren mit Kissen bezogene Bänke, und Kathleen und ich hatten dort viele Nachmittage »abgehangen«, wie sie es nannte. Belvedere bedeutet »schöne Aussicht« und unser Pavillon machte seinem Namen alle Ehre. Von dort aus blickte man auf einen sanft ansteigenden Hang, der mit Reben und Rosenbüschen überwuchert war, deren blutrote Blüten die Luft mit ihrem Duft schwängerten.
Ich lag quer auf einer der Bänke und beobachtete eine Libelle - eine gewöhnliche Königslibelle (obwohl sie mit ihren vibrierenden, durchscheinenden Flügeln alles andere als gewöhnlich aussah), die auf einer Mauerbrüstung balancierte -, als Kathleen mit wehenden Haaren und vom Fahrradfahren gerötetem Gesicht angerannt kam. Die schwüle Luft kündigte eines der Gewitter an, die im Spätsommer gern an Nachmittagen aufzogen.
Sie sah auf mich hinunter, schnappte nach Luft und fing
dann an zu lachen. »Jetzt … sieh … dich … nur … an«, stieß sie keuchend hervor. »Die … Königin … des … Müßiggangs.«
»Und wer bist du?«, fragte ich und setzte mich auf.
»Ich bin hier, um dich zu retten.« Sie zog ein Plastiktütchen aus ihrer Jeanstasche, öffnete es und
Weitere Kostenlose Bücher