Das Zeit-Tippen
gespaltene Kinn, die gleiche Nase – ist nackt und bibbert. Roger erhöht die Temperatur im Wagen auf gut zwanzig Grad und wendet sich dann wieder Bennie zu.
„Woher weißt du, was meine Ansicht ist?“ fragt Roger und versucht eine bequeme Haltung zu finden. Seine Backe berührt die Kopfstütze, und sein Knie berührt Sandras stoppeliges Bein. Sandra rückt näher zur Tür.
„Du bist versessen auf Guyot Marchant und Holbein“, sagt Bennie. „Ich habe deine Ausleihbibliotheksliste gelesen. Glaubst du etwa, daß ich intellektuell nicht mit den gemalten Totentänzen vertraut bin? Na, ich kenne die Gedichte von Jean Le Fevre, und ich habe die Dias von den Fresken in der Kirche von La Chaise-Dieu gesehen. Ich habe Gedeon Huet auf der Liste entdeckt, und ich habe mir sogar deine Bücher angeschaut – ich lese gerade den Totentanz und bin fast damit fertig.“
„Du mußt mich um Erlaubnis fragen“, sagt Roger, aber er ist stolz auf seinen Sohn. Er ist bestimmt der kleine Mann der Familie, sagt Roger zu sich. Die anderen Kinder wollen nur meckern und plärren und essen und „Faß an“ spielen.
Sandra wacht auf, streicht sich das Haar aus dem Gesicht und fragt: „Wie lange noch?“ Ihr Hals und ihr Gesicht sind verschwitzt. Sie schaltet die Temperatur herunter, wobei sie erstickte Laute von sich gibt und behauptet, daß diese Fahrt zu lang sei und daß sie Hunger habe.
„Ich habe auch Hunger“, sagt Rosemarie. „Und hier drinnen ist es heiß, und alles klebt.“
„Wir werden bald da sein“, sagt Roger zu seiner Familie, während er durch die große Windschutzscheibe den dampfenden Highway vor sich betrachtet. Die Luft scheint durch die Abgase der anderen Wagen zu flimmern, und Gott hat kleine Luftspiegelungen blauen Wassers geschaffen.
„Seht euch die Luftspiegelungen auf dem Highway an“, sagt Roger zu seiner Familie. Was für ein Tag, am Leben zu sein! Was für ein Tag, mit seiner Familie zusammenzusein! Er beobachtet, wie ein roter Flitzer unversehrt mitten durch eine blaue Luftspiegelung saust. „Was für ein Tag“, ruft er aus. Er grinst und kneift Sandra ins Knie.
Aber Sandra gibt seiner Hand einen Klaps, als habe sie eine Mücke belästigt.
Trotzdem, es ist ein herrlicher Tag.
„So, da wären wir“, sagt ein aufgeregter Roger, sobald die Lampen am Armaturbrett aufleuchten und anzeigen, daß jetzt jeder aussteigen kann.
Was für eine Aussicht! Der Wagen parkt in der sechzehnten Reihe eines großen Parkplatzes, der den großartigsten Friedhof im Osten überblickt. Von dieser günstigen Stelle aus (sie ist bestimmt vierzig Dollar Parkgebühren wert) kann Roger den herrlichen Chastellain Cemetery und seine Umgebung sehen. Dort im Norden sind gewellte Hügel und ein grüner Streifen, der ein Pinienwald sein muß. Im Westen sind hohe Berge, die Gottes Hand abgeflacht hat. Die Welt ist eine Pastellpalette: Es ist die erste Herbstfärbung.
Der Friedhof ist ein Fest lebhaften Treibens. Roger stellt sich vor, in der Zeit zum Paris des 15. Jahrhunderts zurückgeschlüpft zu sein. Er ist der edle Bouciquaut und der Herzog von Berry in einem. Er schaut auf das gewöhnliche Volk herab, das durch den Kreuzgang schlendert. Die Bauern lungern zwischen den Begräbnissen und Wiederausgrabungen herum und schnuppern den Gestank des Todes.
„Ich habe Hunger“, quengelt Rosemarie, „und es ist hier oben so windig.“
„Wir sind wegen der Aussicht heraufgekommen“, sagt Roger. „Also genießt sie.“
„Laßt uns essen und den Tag hinter uns bringen“, sagt Sandra.
„Mami lebt in ihrem linken Gehirn, nicht wahr, Papi?“ sagt Bennie. „Sie leidet unter der Gleichschaltung und Gehirnwäsche von früher.“
„So solltest du nicht von deiner Mutter sprechen“, sagt Roger, während er den Kofferraum aufmacht und jedem einen Picknickkorb reicht.
„Aber »Mutter« ist altmodisch“, sagt Bennie, während sie zu den Aufzügen gehen. „Sie glaubt, daß jeder sich der Gesellschaft anpassen muß, um die Welt zu bändigen. Aber sie fühlt sich nur Erscheinungsformen verpflichtet und kümmert sich nicht um die Substanz.“
„Hältst du deinen Vater für modern?“ sagt Sandra zu Bennie, der wie ein braver Sohn hinter ihr hergeht.
„Du bist eine Antiquität“, sagt Bennie. „Du verstehst das richtige Verstandesleben nicht. Du akzeptierst den Tod nicht als Verbündeten.“
„Was habe ich dann hier zu suchen?“
„Du bist Papi zuliebe hierhergekommen. Du haßt
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