Das Zeit-Tippen
glatt weiter, als hätte Martin das Steuer nie herumgerissen. Der Wagen folgt einer leichten Straßenkurve. Martin ist nur noch ein Passagier.
„Nein!“ schreit er, während er nochmals das Steuer herumreißt. Der Wagen reagiert nicht. Martin tritt auf die Bremse, aber der Wagen behält seine Geschwindigkeit bei. Obwohl Martin brüllt – lange schrille Schreie –, hört er nur das Motorengeräusch. Vollständige Zahlenreihen gehen ihm durch den Sinn: all die Daten über das Coupe, die er sich seinerzeit eingeprägt hatte.
Eine halbe Meile vor der nächsten Ausfahrt verlangsamt der Wagen sein Tempo, biegt nach rechts ab und folgt der Ausfahrtsstraße mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung von dreißig Stundenmeilen. Er fährt auf das erst blutige, dann buttergelbe Schmelzen jenseits der grauen Hügel zu.
Sein Zuhause ist nur noch ungefähr zwanzig Meilen entfernt.
Martin spürt, wie er bergabwärts rollt. Er kann sich kaum bewegen, denn er ist genauso schwer wie sein Wagen. Seine Hände ruhen auf dem Steuer, als hätte er es im Griff. Die Klimaanlage bläst ständig einen kalten Luftzug in sein Gesicht. Zahlen gehen ihm durch den Sinn.
Es wird ein trüber Tag. Lange graue Wolken treiben am Himmel, und Martin träumt, daß der Himmel aus Metall ist. Er träumt, daß die Welt aus Metall ist, daß er aus Metall ist.
Mit einer letzten Kraft-, Hoffnungs- und Willensanstrengung befiehlt Martin seinem Fuß, das Gaspedal ganz herunterzudrücken. Noch einmal träumt er von dem herrlichen Aufprall seines Körpers und dem herausspritzenden Hirn.
Aber das Coupe behält seine Geschwindigkeit bei.
Martin ist beinahe zu Hause.
Die Dibbuk-Puppen
Chaim Lewis hatte seinen Laden früh aufgemacht. Er hatte nichts Besonderes gegen die Undercity, obwohl Levi Lewis, sein Halbbruder, ihm einredete, daß er durch die Strahlungen unfruchtbar werde (was für ein Unsinn) und sein Augenlicht verliere. Warum brauchte er, nachdem er zwei Kinder gezeugt hatte, noch potent zu sein und wozu das Augenlicht? Wenn er erblindete – was nicht geschehen konnte; Dr. Synder-Lange, sein Augenarzt, war Staatsbeamter und besuchte Seminare –, was machte ihm das aus? Er konnte eine billige Wohneinheit in Friedman City (die Hängende Stadt genannt wurde) bekommen – oder, wenn er genug gespart hätte, ein abgeschlossenes Zimmer in Manhattan City ergattern. Eine helle Metallfassade wäre wesentlich besser als der Castigon Complex. Shtetlfive, das im vornehmeren Teil des Komplexes lag, war ein sehr hübsches Oberstadtgetto, steinreich, semipsychologisch-isoliert und sensoriell-geschützt. Aber Chaim wollte nicht nach Shtetlfive ziehen; er brauchte den Schutz vertrauter Gedanken und der Kultur. Es wäre nicht so schlimm. Er könnte weiter Shtetlfive besuchen – es würde vorläufig nicht seinen Standort ändern, vielleicht sogar nie. Leider gingen die Geschäfte nicht allzu gut.
Über Shtetlfive lag das winzige Chardin-Getto. Sie gaben all ihr Geld (und das war eine beträchtliche Summe) ihrer Kolonie auf Omega-Ariadne. Koper Chardin führte ungestraft eines der besten Vergnügungsetablissements in der Undercity. Er machte sogar Reklame für Organ-Glücksspiele, „für diejenigen, die die höchste Spielerleidenschaft erleben wollen“. Es lag in der Chelm Street – die von der Shtetl-Castigon Corporation zu horrenden Preise vermietet wurde – und war auf gegenseitiger Vertragsbasis erbaut worden, um allen Geschäftsinteressen besser zu dienen. Sein Überschuß (und die Armen, die es sich nicht leisten konnten) trugen einen bescheidenen Teil zu Chaim Lewis’ Geschäft bei. Aber der Großteil seines Gelds stammte von Sammlern.
„Sammler nennen sie sich selbst“, sagte Chaim zu niemand Bestimmtem, während er die Aktienkurse auf dem hinter seinem hüfthohen Ladentisch versteckten Telefex studierte. Der kleine Raum war verstaubt und schlecht beleuchtet, aber kostspielig schalldicht, so daß nur Gedankengeräusche auf niedriger Ebene einzudringen und seine Kunden zu beeinflussen vermochten.
Eine junge Frau in einem Ballonanzug wandte sich von einem Zeitschriftenregal an der Wand um und sagte: „Was kosten diese Gestüt- Zeitschriften?“
Sie muß geil darauf sein, sehr geil, dachte er, während er spöttisch die Augen zusammenkniff. Und sie ist älter, als sie aussieht. Das ist ein Ersatzgesicht, sagte er sich.
„Also, wieviel?“ Ihr Ballonanzug änderte die Farbe, um sich der Umgebung anzupassen. Dieses Vorderzimmer, der
Weitere Kostenlose Bücher