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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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nicht nur aus einer einzigen in sich abgeschlossenen geistigen Fähigkeit besteht. Es gibt vielmehr zwei Hauptformen des Langzeitgedächtnisses. Das explizite Gedächtnis , das H. M. verloren hatte, betrifft Personen, Orte und Objekte. Es beruht auf dem bewussten Abrufen von Erinnerungen und beansprucht den mittleren Temporallappen und den Hippocampus. Das implizite Gedächtnis , das H. M. erhalten geblieben war, umfasst das unbewusste Abrufen von motorischen und perzeptuellen Fähigkeiten sowie emotionalen Erfahrungen; es beansprucht die Amygdala, das Striatum und, auf der untersten Ebene, die Reflexbahnen.
    Die Top-down-Verarbeitung erfordert beide Gedächtnistypen. Das implizite Gedächtnis ist von zentraler Bedeutung für das unbewusste Abrufen von Emotionen und Empathie in Reaktion auf ein Gemälde. Das explizite Gedächtnis ist entscheidend für das bewusste Abrufen von Form und Inhalt des Gemäldes. Gemeinsam bringen die beiden Systeme persönliche wie auch kulturelle Erinnerungen in die Rezeption eines Kunstwerks ein. Auch die Interpretation künstlerisch eingesetzter ikonischer Zeichen – seien es Klimts rechteckige und eiförmige Symbole oder Schieles verzerrte Arme und Hände – ist vom Gedächtnis der Betrachter abhängig. Ganz gleich, ob ein ikonisches Zeichen eine kulturelle oder persönliche Bedeutung wachruft – damit die Betrachter dieses Zeichen bewusst oder unbewusst erkennen, sind sie auf das eine oder das andere Gedächtnissystem ihres Gehirns, oft sogar auf beide, angewiesen.
    1970 BEGANNEN NEUROWISSENSCHAFTLER, die zellulären und molekularen Mechanismen der Gedächtnisspeicherung zu analysieren. Zu ihren verblüffendsten Entdeckungen zählte, dass das Langzeitgedächtnis anatomische Veränderungen in den Nervenzellen in Gang setzt. Insbesondere kann der Prozess des Lernens und Erinnerns die Zahl der synaptischen Kontakte zwischen den Nervenzellen, die die betreffenden Informationen tragen, signifikant erhöhen. So hat Charles Gilbert von der Rockefeller University festgestellt, dass Zellen in der primären Sehrinde während des Lernprozesses beträchtliche anatomische Veränderungen erfahren. Heute wissen wir, dass Erwartungen, Aufmerksamkeit und bereits bekannte Bilder allesamt die Eigenschaften dieser Neuronen beeinflussen, indem sie ihre synaptischen Verbindungen modifizieren.
    Von fundamentaler Bedeutung sind im Gedächtnis gespeicherte Informationen auch für das Auflösen von Mehrdeutigkeit – und somit für das Trennen einer Figur vom Grund. Der simple Figur-Grund-Wechsel zwischen Gesichtern und Vase bei der Rubin’schen Vase (Abb. 12-3) bereitet uns keine Probleme. Bei Bildern, in denen die Mehrdeutigkeit durchgängiger ist, kann das Unterscheiden einer Figur vom Hintergrund jedoch recht schwierig sein, wie bei der Darstellung eines Dalmatiners in Abb. 18-2. Auf den ersten Blick ist der Hund schwer auszumachen. Doch nach einer Weile gruppieren wir verschiedene Fragmente und Konturen zu einer zusammenhängenden Form und erkennen allmählich den Kopf des Tieres und sein linkes Vorderbein. Sobald wir diese Teile des Hundes rekonstruiert und gesehen haben (Abb. 18-4), ist es bei einem späteren erneuten Betrachten des ersten Bildes einfach, sie mithilfe der impliziten Erinnerung an unsere frühere perzeptuelle Erfahrung vom Hintergrund zu trennen. Tatsächlich entwickeln wir rasch ein solches Geschick dabei, den Dalmatiner zu entdecken, dass es nun unmöglich wird, ihn nicht mehr zu sehen. Ähnlich ergeht es uns mit dem mehrdeutigen Bild eines Mädchens oder einer alten Frau, das der Harvard-Psychologe E. G. Boring entworfen hat (Abb. 18-3). Das Mädchen sehen wir sofort. Wenn wir jedoch ihr Ohr fokussieren, erkennen wir darin plötzlich das Auge einer alten Frau, und das Kinn des Mädchens entpuppt sich als die Nase der Alten (Abb. 18-5). Diese Bilder zeigen uns: Haben wir eine Figur erst einmal im Gedächtnis gespeichert, können wir mittels Top-down-Verarbeitung – die sich auf das Gedächtnis stützt – beliebig zwischen den beiden Motiven hin- und herspringen.

    Abb. 18-2

    Abb. 18-3
    Diese mehrdeutigen Bilder illustrieren, dass die Top-down-Verarbeitung offenbar Bilder in unserem Gedächtnis zu einer Hypothesenprüfung heranzieht, um auf Kategorie, Bedeutung, Nutzen und Wert eines Bildes auf der Netzhaut zu schließen. Ihr Ausgangspunkt ist eine Hypothese über das, was da draußen zu einem bestimmten Zeitpunkt zu sehen ist. Normalerweise suchen wir in Abhängigkeit von

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