Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Repräsentationen zu interpretieren, die weniger als drei Dimensionen haben, deutet darauf hin, dass wir die sichtbare Welt nicht als wirklich dreidimensional erfahren, und hat es möglich gemacht, dass flache Bilder (und Filme) unsere visuelle Umgebung als ökonomischer und bequemer Ersatz für 3D-Repräsentationen dominieren. Da sich diese Toleranz gegenüber flachen Repräsentationen in allen Kulturen, bei Babys und bei anderen Spezies findet, kann sie keine erlernte Konvention sein. Stellen Sie sich vor, wie anders unsere Kultur beschaffen wäre, wenn wir flache Repräsentationen nicht richtig deuten könnten. 152
Der Naturwissenschaftler und Philosoph Michael Polanyi erläutert, dass das Bewusstsein, mit dem wir ein gegenständliches Gemälde betrachten, zwei Komponenten hat: das fokale Bewusstsein für die dargestellte Person oder Szene und das subsidiäre Bewusstsein , zu dem auch Oberflächenmerkmale, Linien und Farben gehören sowie die zweidimensionale Fläche der Leinwand – obgleich wir bei der Betrachtung von Vincent van Goghs und Oskar Kokoschkas bemerkenswerten Selbstporträts (Abb. 18-7 und 18-11) durchaus versucht sein könnten, diese Komponenten umzukehren, indem wir uns vor allem auf deren Pinselstriche und gestalterische Eigentümlichkeiten konzentrieren.
Abb. 18-7.
Vincent van Gogh, Selbstbildnis mit grauem Filzhut (1887–1888).
Öl auf Leinwand.
Laut dem Wahrnehmungspsychologen Irvin Rock sind diese beiden Bewusstseinszustände entscheidend, wenn wir verstehen wollen, warum wir in gegenständlicher Malerei ein Abbild der Wirklichkeit erkennen. Weil wir voll und ganz akzeptieren, dass ein Gemälde nur eine Ähnlichkeit mit der Realität aufweist und sie nicht wahrheitsgetreu wiedergibt, nehmen wir bei seiner Wahrnehmung unbewusst Korrekturen vor, die auf Top-down-Prozessen (bereits erlerntem Wissen) beruhen oder intuitiv (ohne Vorwissen) erfolgen.
Im letzten Kapitel haben wir gesehen, dass unsere Augen beim Betrachten von Kunst fortwährend (und unbewusst) in Bewegung sind. Demzufolge setzt sich die Gesamtwahrnehmung eines Gesichts aus dem schnellen, wiederholten Scannen verschiedener interessanter Bereiche zusammen. Obwohl die ästhetische Erfahrung eines Kunstwerks mehr umfasst als die Summe seiner Teile, beginnt die visuelle Erfahrung mit diesem Sammeln von Mosaiksteinchen, dem Abtasten aller Einzelteile, Merkmal für Merkmal. Die Abbildungen 18-8 bis 18-13 verdeutlichen, wie wichtig verschiedene Arten von Scanbewegungen sind, um die wesentlichen Elemente eines Gemäldes zu identifizieren.
151 Mamassian, P., »Ambiguities and Conventions in the Perception of Visual Art«, Vision Research 48 (2008), S. 2149.
152 Cavanagh, P., »The Artist as Neuroscientist«, Nature 434 (2005), S. 304.
Abb. 18-8.
Gustav Klimt,
Adele Bloch-Bauer II (1912).
Öl auf Leinwand.
Abb. 18-9.
Gustav Klimt,
Adele Bloch-Bauer I (1907).
Öl, Silber, Gold auf Leinwand.
Abb. 18-10.
Gustav Klimt, Judith (1901).
Öl auf Leinwand.
Abb. 18-11.
Oskar Kokoschka,
Selbstbildnis, eine Hand ans
Gesicht gelegt (1918–1919).
Öl auf Leinwand.
Abb. 18-12.
Oskar Kokoschka,
Rudolf Blümner (1910).
Öl auf Leinwand.
Abb. 18-13.
Oskar Kokoschka,
Ludwig Ritter von Janikowski (1909).
Öl auf Leinwand.
Klimts drei Frauenbilder – zwei von Adele Bloch-Bauer und eins von der biblischen Judith – unterscheiden sich insbesondere im jeweiligen Gesichtsausdruck. Im oberen Bild erscheint Adele neutral, fast gelangweilt, im unteren schon etwas verführerischer. Judith im dritten Bild – noch in sinnlichen Erinnerungen schwelgend – scheint zugleich zu triumphieren und bereit für neue Abenteuer zu sein. Doch genauso bemerkenswert ist vielleicht, wie sehr unsere visuelle Aufmerksamkeit, vor allem bei den beiden Porträts von Adele Bloch-Bauer, von Details in Anspruch genommen wird, die nichts mit dem Gesicht der Modelle zu tun haben – zum Beispiel von ihren reich verzierten Gewändern, die fast unmerklich mit dem Hintergrund verschmelzen. Im Gegensatz dazu laden van Gogh und Kokoschka die Betrachter ein, vor allem den Gesichtsausdruck ihrer Modelle zu studieren. Jedes Gesicht ist unverwechselbar und einprägsam. Der stark strukturierte Hintergrund dient nur dazu, die Gefühle hervorzuheben, die die Gesichtszüge ausdrücken. Somit müssen sich unsere Augen beim Betrachten von Klimts Porträts im Multitasking üben: Sie scannen das gesamte Gemälde, um sich ein Bild von den verschiedenen Ideen zu machen, die der Künstler zu
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