Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
auf ganz andere Weise, und unsere Reaktionen können buchstäblich davon abhängen, wo wir stehen. Die Künstler hingegen sehen sich mit der Herausforderung konfrontiert, den Standort der einzelnen Betrachter nicht zu kennen – wobei sich der Blickwinkel beträchtlich auf die Interpretation einer dreidimensionalen Szene auswirken kann. Mamassian beschreibt diese Herausforderung folgendermaßen:
Selbst wenn der Maler die Gesetze der linearen Perspektive beherrscht … müssten eigentlich alle Standorte bis auf einen zur geometrischen Verzerrung der Szene führen. Der einzige Standort, von dem aus das Gemälde die Szene wirklichkeitsgetreu wiedergibt, ist das Projektionszentrum, also der Ort, von dem aus der Maler die Szene vor ihm auf eine transparente Leinwand übertragen hätte. Demzufolge besteht eine grundlegende Mehrdeutigkeit in der Geometrie der dargestellten Szene, die vom Standpunkt des Betrachters abhängt. 151
Der Betrachter ergänzt mithilfe von Top-down-Prozessen alle weiteren Details, um seine möglicherweise ungünstige Position zu kompensieren. Wie wir in Kapitel 16 gesehen haben, ist ihm im Grunde bewusst, dass eine Leinwand flach ist, weil die Perspektive eines Gemäldes oder einer Zeichnung nie ganz überzeugend ist. Darum wenden sowohl der Künstler als auch der Betrachter stillschweigend vereinfachte Physik an, die ihnen ermöglicht, ein zweidimensionales Bild in der Kunst als dreidimensional zu interpretieren.
Wenn wir dieses Top-down-Phänomen, das auf dem Standort des Betrachters beruht, durchschauen, können wir unsere Wahrnehmung von Gemälden sehr viel besser verstehen. Das bekannteste Beispiel ist der Eindruck, dass uns die Augen einer porträtierten Person überallhin folgen. Dieser Effekt, dem wir auch in Gustav Klimts wunderbarem Porträt (Abb. 18-6) begegnen, beruht auf der Tatsache, dass das Modell dem Maler in die Augen gesehen hat, während es porträtiert wurde. Demzufolge sind die Pupillen des Modells, wenn wir vor dem Bild stehen, direkt auf unsere Augen gerichtet. Wenn wir ein paar Schritte zur Seite gehen, wird die Augenstellung verzerrt, doch unsere Top-down-Wahrnehmung korrigiert diese Verzerrung. Demzufolge erscheint die Pupille des Modells kaum verändert, obwohl wir andere Verzerrungen im Gemälde registrieren. Damit erklärt sich die Illusion, dass uns die Augen der porträtierten Person verfolgen, wenn wir uns bewegen. Wäre die Perspektive in dem Gemälde vollkommen, wie bei einer Skulptur, so würde das Porträt aus jedem Blickwinkel bis auf einen verzerrt wirken. Wenn wir nämlich eine Büste von der Seite betrachten, erscheint die Pupille des Auges nicht mehr rund, und so haben wir nicht den Eindruck, dass sie auf uns gerichtet ist.
Wie Ernst Kris hervorgehoben hat, müssen Künstler, um ein bedeutendes Kunstwerk zu schaffen, vom ersten Moment an ein im Grunde unrealistisches Gemälde hervorbringen. Sie müssen sich strikt der Beschränkung bewusst sein, dass sie ein Produkt ihrer Fantasie erzeugen, welches seinerseits die Fantasie der Betrachter anregt.
In seinen byzantinisch anmutenden Gemälden lotet Klimt die Grenzen der Perspektive und der Top-down-Verarbeitung im Gehirn aus. Zunächst einmal nutzt er die Flächigkeit, um ein Gefühl von Unmittelbarkeit hervorzurufen. Weil er Gesichter und Figuren mit einfachen Linien umreißt, statt schattierte Konturen zu verwenden, springen uns diese Gesichter und Figuren förmlich entgegen und verblüffen uns mit ihrer Präsenz. Überdies fordert Flächigkeit die Betrachter mehr – sie intensiviert unsere Top-down-Reaktionen, indem sie den zweidimensionalen Charakter der Leinwand und die eher abstrakten Züge des Gemäldes betont.
Abb. 18-6.
Gustav Klimt, Frauenkopf (1917).
Öl auf Leinwand.
In einem weiteren Sinne erklärt unsere Fähigkeit, die Zweidimensionalität der Malerei zu kompensieren, warum unsere Wertschätzung der Kunst, ja selbst unser Verstehen von Kunstwerken nicht von der Wahl eines bestimmten Standorts beim Betrachten abhängt. Patrick Cavanagh schreibt dazu:
Flache Gemälde sind etwas so Alltägliches für uns, dass wir uns selten fragen, warum flache Repräsentationen so gut funktionieren. Würden wir die Welt tatsächlich in 3D erleben, so würde ein Bild auf einem flachen Gemälde durch Verzerrung entstellt, wenn wir uns vor ihm hin- und herbewegten. Aber solange es flach ist, passiert das nicht. Ein gefaltetes Bild hingegen wird durch unsere Bewegung verzerrt. Unsere Fähigkeit,
Weitere Kostenlose Bücher