Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Gedächtnis hätte. Das Gedächtnis ist der Klebstoff, der unser geistiges Leben zusammenhält, ob es sich um unsere Rezeption von Kunst handelt oder um andere Ereignisse in unserer Lebensgeschichte. Das, was wir lernen und woran wir uns erinnern, macht uns im Wesentlichen zu dem, was wir sind. Für unsere perzeptuelle und emotionale Reaktion auf Kunst ist das Gedächtnis von grundlegender Bedeutung. Es ist ein untrennbarer Bestandteil der Top-down-Verarbeitung der visuellen Wahrnehmung; auch in Panofskys Theorie über die Bedeutung der Ikonografie für die Rezeption von Kunst ist das Gedächtnis, wie wir gesehen haben, ein zentraler Begriff. Das menschliche Gedächtnissystem bildet abstrakte innere Repräsentationen, die aus früheren Begegnungen mit ähnlichen Bildern oder Erfahrungen entstehen.
Die moderne Erforschung von Gehirn und Gedächtnis hat sich aus der Zusammenarbeit der Kognitionspsychologie des Gedächtnisses mit der Biologie der Gedächtnisspeicherung entwickelt. Diese Kooperation begann 1957 mit der berühmten in Großbritannien geborenen Psychologin Brenda Milner, die am Montreal Neurological Institute arbeitete. Milner beschrieb die Auswirkungen einer Operation an ihrem Patienten H. M., bei der man ihm den mittleren Temporallappen in beiden Hirnhälften entfernte, um eine schwere Epilepsieerkrankung zum Stillstand zu bringen. Der Verlust des mittleren Temporallappens, insbesondere des darinliegenden Hippocampus, hatte den umfassenden Verlust von Erinnerungen an Personen, Orte und Objekte zur Folge, obwohl H. M.’s geistige und perzeptuelle Funktionen unbeeinträchtigt blieben.
Milners Untersuchungen von H. M. offenbarten drei wichtige Prinzipien, auf denen die Bedeutung des Hippocampus für das Gedächtnis beruht. Da H. M.’s andere geistige Fähigkeiten erhalten geblieben waren, konnte Milner erstens mit Sicherheit sagen, dass das Gedächtnis aus einer separaten Menge geistiger Funktionen besteht, die in spezifischen Hirnregionen angesiedelt sind. Außerdem konnte H. M. Informationen, etwa eine Telefonnummer, eine kurze Zeit – zwischen einigen Sekunden und ein bis zwei Minuten – im Gedächtnis behalten. Das wies darauf hin, dass der Hippocampus und der mittlere Temporallappen nicht für das Kurzzeitgedächtnis zuständig sind, sondern für die Überführung des Kurzzeitgedächtnisses ins Langzeitgedächtnis. Und weil sich H. M. an Dinge erinnern konnte, die sich lange vor seiner Operation ereignet hatten, folgerte Milner überdies, dass das sogenannte tertiäre Gedächtnis für sehr lang zurückliegende Erinnerungen in der Großhirnrinde gespeichert ist und letztlich weder den Hippocampus noch den mittleren Temporallappen benötigt.
Wenn wir also ein neues Bild auf einer Leinwand betrachten und es mit einem anderen Bild assoziieren oder uns am Tag darauf daran erinnern, gelingt uns das, weil unser Hippocampus ans Werk gegangen und die neue Information gespeichert hat. Die Bäume in Klimts Mohnwiese konnten wir erkennen, weil Informationen über andere Landschaftsgemälde, die wir irgendwann gesehen haben, ebenfalls vom Hippocampus (als dem »Zwischenspeicher« oder dem »Arbeitsgedächtnis«) in Langzeiterinnerungen überführt wurden. Im Laufe der folgenden Monate – einer verblüffend langen Zeit – wandert die neue Information allmählich ins Sehsystem der Großhirnrinde, um dort dauerhaft gespeichert zu werden. Man nimmt an, dass dieselben Gesichts-Flecken, die für das Erkennen eines bestimmten Gesichts zuständig sind, auch eine entscheidende Rolle beim Speichern der Langzeiterinnerung dieses Gesichts spielen – sie scheinen sowohl die kognitiven als auch die emotionalen Informationen über ein Gesicht, das sie erkannt haben, unbegrenzt zu bewahren. Tatsächlich weisen neuere Studien darauf hin, dass jedes emotional besetzte visuelle Bild im Langzeitgedächtnis verschlüsselt ist und in denselben oberen Arealen des Sehsystems gespeichert wird, die ursprünglich die Informationen über dieses Bild verarbeitet haben.
Im Verlauf der Untersuchungen von H. M.’s Gedächtnisverlust machte Milner eine weitere bemerkenswerte Entdeckung. Sie fand heraus, dass sein Gedächtnis zwar schwer beeinträchtigt war, was bestimmte Wissensbereiche betraf, er aber durch Wiederholung durchaus neue motorische Fähigkeiten erwerben konnte, ohne sich dieses Vorgangs bewusst zu werden. Larry Squire von der University of California in San Diego setzte diese Studien fort und zeigte, dass das Gedächtnis
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