Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
verarbeitet und dann mit Signalen, die ihrerseits über Top-down-Prozesse – in höheren kognitiven Hirnbereichen – verarbeitet werden, zusammengeführt. Der visuellen Verarbeitung der oberen Ebene fällt die Aufgabe zu, die Seherfahrungen aus diesen beiden Quellen zu einem sinnvollen Ganzen zu vereinen. Top-down-Signale sind abhängig von Erinnerungen und vergleichen ankommende visuelle Informationen mit früheren Erfahrungen. Unsere Fähigkeit, einem visuellen Erlebnis eine Bedeutung zu verleihen, beruht vollkommen auf diesen Signalen.
Die Bottom-up-Verarbeitung von Informationen hängt weitgehend von den angeborenen Strukturen der ersten Phasen des Sehsystems ab, die bei allen Betrachtern eines Kunstwerks mehr oder weniger gleich sind. Die Top-down-Verarbeitung hingegen benötigt Mechanismen, die Kategorien und Bedeutungen zuweisen, sowie erworbenes Wissen, das als Erinnerung in anderen Hirnregionen gespeichert ist. Demnach ist die Top-down-Verarbeitung individuell verschieden.
LETZTLICH VERARBEITET DAS GEHIRN BILDER – Gesichter, Körper, eigentlich alle Objekte –, indem es sie verallgemeinert und kategorisiert. Das Sehsystem kann Bilder von individuellen Objekten, seien es Äpfel, Häuser, Gesichter oder Berge, mit Leichtigkeit identifizieren, indem es sie generellen Kategorien zuordnet. Gesichter können, genau wie Häuser, ganz unterschiedlich aussehen, aber wir erkennen sie unter vielen verschiedenen Bedingungen dennoch als Gesichter oder Häuser.
Für Earl Miller, der entdeckte, dass visuelle Reize im seitlichen präfrontalen Cortex kategorisiert werden, ist Kategorisierung zum einen die Fähigkeit, auf Reize, die verschieden aussehen, kognitiv ähnlich zu reagieren, und zum anderen, unterschiedlich auf Reize zu reagieren, die sich äußerlich ähneln. Wir erkennen, dass ein Apfel und eine Banane derselben Kategorie angehören – beides ist Obst –, obwohl sie unterschiedlich geformt sind und sich nicht ähnlich sehen. Dagegen betrachten wir einen Apfel und einen Baseball als grundlegend verschieden voneinander, obwohl sie ähnlich geformt sind. Die Kategorisierung ist entscheidend – reine Wahrnehmung ohne Kategorisierung ist bedeutungslos.
Eine rote Kugel auf unserem Küchentisch nennen wir Apfel, eine fast identisch aussehende Kugel auf einem Spielplatz bezeichnen wir hingegen als Ball. Wie und wo unterscheiden Neuronen zwischen Kategorien? Miller versuchte diese Frage zu beantworten, indem er digitale Fotos erzeugte, in denen sich Tiere aus zwei verschiedenen Kategorien, zum Beispiel Hund und Katze, durch Morphing ineinander verwandeln und beispielsweise Bilder entstehen, die zu 40 Prozent eine Katze und zu 60 Prozent einen Hund darstellen. Dann zeichnete er neuronale Signale im seitlichen präfrontalen Cortex von Affen auf; diese Region empfängt aus dem unteren temporalen Cortex Informationen über Objekte, Orte, Gesichter, Körper und Hände. Miller stellte fest, dass Neuronen im seitlichen präfrontalen Cortex für Grenzen zwischen Kategorien empfindlich sind – sie reagieren auf Bilder der einen Kategorie, aber nicht der anderen, das heißt, sie reagieren auf das Bild eines Hundes, aber nicht auf das Bild einer Katze, oder umgekehrt.
Danach wiederholte Miller das Experiment und nahm dieses Mal gleichzeitig Signale vom seitlichen präfrontalen Cortex und vom unteren temporalen Cortex auf. Er entdeckte, dass beide Hirnregionen eine spezifische Rolle bei der kategorienbasierten Wahrnehmung spielen. Der untere temporale Cortex analysiert die Gestalt eines Objekts, während der präfrontale Cortex das Objekt einer spezifischen Kategorie zuweist und die Verhaltensreaktion codiert, die die betreffende Person zeigen wird. Die Entdeckung stabiler, kategorienspezifischer Signale im präfrontalen Cortex, die das Konzept »Hund«, nicht nur die Gestalt, codieren, steht in Einklang mit der Vorstellung, dass der seitliche präfrontale Cortex zielgerichtetes Verhalten steuert. Millers Ergebnisse legen nahe, dass eine weitere Kategorisierung erfolgt, wenn Neuronen im unteren temporalen Cortex entsprechend gewichtete Informationen an Neuronen im präfrontalen Cortex senden, die verhaltensrelevante Informationen codieren – wie das Erkennen eines Hauses als mein Haus. Auf diese Weise ist der untere temporale Cortex auch daran beteiligt, Bilder zu erkennen und sie allgemeineren Kategorien zuzuweisen.
DAS GEHIRN KÖNNTE KEINE KATEGORIEN BILDEN – und auch sonst nicht viel tun –, wenn es kein
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