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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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ob die Person rennt, geht oder tanzt. Häufig können wir sogar sagen, ob die Person glücklich oder traurig ist. Menschen, selbst schon viermonatige Babys, schauen lieber sich bewegende Lichtpunkte an, die eine Figur bilden, als sich zufällig bewegende Lichtpunkte – das heißt, sie betrachten lieber biologische als nichtbiologische Bewegung. Unser Gehirn hat im Laufe der Evolution gelernt, jeden greifbaren Hinweis zu nutzen, der uns verrät, was in der Welt vor sich geht.
    Zum Teil unter dem Einfluss von Freuds intuitiven Erkenntnissen und den systematischen Bemühungen von Kris und Gombrich haben Neurowissenschaftler eine gründlichere, zelluläre Analyse der menschlichen Sinnessysteme unternommen. Insbesondere begannen Richard Gregory und David Marr damit, die menschliche Wahrnehmung mithilfe der Bottom-up-Strategien der Gestaltpsychologie sowie der Top-down-Strategien der Hypothesenprüfung und Informationsverarbeitung zu analysieren. Indem sie auf Zellebene bestätigt haben, dass unsere Sinnessysteme kreativ sind – sie stellen Hypothesen darüber auf, welche Gesichter, Gesichtsausdrücke, Handhaltungen und Körperbewegungen relevant sind und was biologische von nichtbiologischer Bewegung unterscheidet –, haben uns diese Neurowissenschaftler hinter die Kulissen des Privattheaters unseres Geistes geführt.
    149 Ramachandran, V., The Reith Lectures, Lecture 3: »The Artful Brain«, in: The Emerging Mind (London: BBC in Zusammenarbeit mit Profile Books, 2003).
    150 Gelder, B. de, »Towards the Neurobiology of Emotional Body Language«, Nature Reviews Neuroscience 7, 3 (2006), S. 242.

KAPITEL 18
    TOP-DOWN-VERARBEITUNG VON INFORMATIONEN: AUF DER SUCHE NACH BEDEUTUNGEN HELFEN ERINNERUNGEN
    W enn große Künstler aus ihren Lebenserfahrungen heraus ein Bild erschaffen, ist dieses Bild von Natur aus mehrdeutig. Demzufolge beruht seine Bedeutung auf den Assoziationen, dem Weltwissen und dem Kunstverständnis jedes einzelnen Betrachters sowie auf dessen Fähigkeit, diese Kenntnisse abzurufen und in die Interpretation jenes ganz individuellen Bildes einfließen zu lassen. Dies ist die Grundlage für den »Anteil des Beschauers« – für die Neuschöpfung eines Kunstwerks durch seine Rezipienten. Kulturelle Symbole, an die man sich erinnert, sind für das Erzeugen und Betrachten von Kunst ähnlich wichtig. Das veranlasste Ernst Gombrich zu der These, dass das Gedächtnis in der Wahrnehmung von Kunst eine entscheidende Rolle spiele. Gombrich vertrat sogar die Ansicht, dass die Interpretation eines Gemäldes stärker von anderen Gemälden beeinflusst werde als von seinen eigenen Inhalten.
    Schauen wir uns beispielsweise eine von Gustav Klimt gemalte Landschaft an, Mohnwiese (Abb. 18-1). Die Bedeutung des Bildes allein aus sich heraus zu bestimmen, ist schwierig. Ins Auge fällt sofort eine homogene Masse grüner Farbe, gesprenkelt mit roten, blauen, gelben und weißen Flecken sowie als Gegengewicht zwei schmale helle Streifen am oberen Rand der Leinwand. Sobald wir aber dieses Bild mit dem abgleichen, was wir über Malerei wissen, erschließt sich der Bildinhalt umgehend. Ist uns die Tradition der Landschaftsmalerei, insbesondere die des impressionistischen und postimpressionistischen Pointillismus, vertraut, so ersteht aus der Masse grüner und roter Kleckse vor unseren Augen die wunderschöne ländliche Szenerie einer blumenübersäten Mohnwiese. Obwohl sich die beiden Bäume im Vordergrund kaum von der sie umgebenden Blumenwiese abheben, lässt sich doch leicht eine Figur-Grund-Beziehung herstellen, weil wir als Betrachter wissen, wonach wir suchen müssen.

    Abb. 18-1.
Gustav Klimt, Mohnwiese (1907).
Öl auf Leinwand
    Das Gleiche gilt für Klimts Ganzkörperporträts. In Der Kuss wie auch in Adele Bloch-Bauer I (Abb. 8-25 und Abb. 1-1) verschwinden die Körper der Figuren gleichsam in der verschwenderischen goldenen Ornamentik, doch dank unseres Wissens über figürliche Malerei und unserer Erwartungen in Bezug auf Körperkonturen können wir Figur und Grund mit Leichtigkeit voneinander trennen.
    Wie wir gesehen haben, ist der bemerkenswerteste Aspekt der visuellen Wahrnehmung, dass unsere Interpretation von Gesichtern, Händen und Körpern anderer Menschen großenteils auf Vorgängen beruht, die von dem Lichtmuster, das auf unsere Netzhaut fällt, unabhängig sind. Entscheidend für die Interpretation ist Folgendes: Informationen werden über Bottom-up-Prozesse – Sehen der unteren und mittleren Ebene –

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