Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
anderen sensorischen Hinweisen und unseren Erinnerungen an frühere Erfahrungen nach spezifischen Dingen und richten unsere Aufmerksamkeit darauf. Demzufolge spiegelt die Reaktion der Neuronen in der Sehbahn nicht nur die physischen Merkmale eines Objekts oder unsere Erinnerung daran wider, sondern auch unseren kognitiven Zustand. Sind wir beispielsweise aufmerksam, so können wir Gestalt und Proportionen eines Objekts leichter analysieren und es mit bereits bekannten Objekten in Zusammenhang bringen, als wenn wir vor uns hinträumen.
Wie erwerben wir neue visuelle Informationen und speichern sie im Gedächtnis? Implizite Erinnerungen speichern wir häufig über Assoziationen, wie der russische Physiologe Iwan Pawlow als Erster gezeigt hat. Pawlow präsentierte einem Hund wiederholt Futter, das den Hund zur Speichelabsonderung veranlasste, zusammen mit einem Licht. Er stellte fest, dass der Hund nach einer gewissen Zeit Speichel absonderte, wenn er das Licht sah, selbst wenn es ihm ohne Futter präsentiert wurde. Dieses Prinzip – die klassische Konditionierung – unterliegt vielen unserer kognitiven und perzeptuellen Prozesse. Entsprechend verknüpfen wir auch Objekte, die wir häufig gemeinsam sehen, in unserem Gedächtnis miteinander. Auf diese Weise ruft der Anblick des einen Objekts fast unweigerlich die Vorstellung des anderen hervor.
Abb. 18-4
Abb. 18-5
Dieses assoziative Gedächtnis nimmt Erinnerungen auf, wenn unser Gehirn Verbindungen zwischen den Neuronen, die die assoziierten Objekte repräsentieren, erzeugt oder verstärkt. Das hat folgenden praktischen Effekt: Sobald zwei Objekte – nennen wir sie A und B – miteinander assoziiert und im impliziten Gedächtnis gespeichert wurden, reagieren die Neuronen im Hirnbereich B nicht nur auf Objekt B, sondern auch auf Objekt A. Thomas Albright vom Salk Institute hat sich gefragt, ob diese Art von Assoziation auf den Hippocampus beschränkt ist oder auch im Sehsystem erfolgen kann. Er fand Neuronen in verschiedenen oberen Regionen des Sehsystems von Affen, die zwei Aufgaben erfüllen: Sie reagieren auf einen visuellen Reiz und auf einen vom Gedächtnis ausgelösten Reiz. Die Entdeckung dieser Gedächtnisneuronen zeigt, dass obere Hirnregionen untere beeinflussen können; möglicherweise erklärt sie, warum uns etwas Neues, das wir gerade in einem Bild gesehen haben, häufig an etwas erinnert, das wir von früher kennen, warum ein uns unbekanntes Bild eine vertraute Erinnerung wachruft.
Einer der faszinierendsten Aspekte der visuellen Verarbeitung auf oberer Ebene besteht darin, dass wir ähnliche Reaktionen unseres Gehirns empfinden, wenn wir ein Objekt zum ersten Mal sehen und wenn wir uns an dieses Objekt erinnern. Bei der ersten Begegnung leitet sich die Erfahrung von der Bottom-up-Verarbeitung der visuellen Informationen ab – es geschieht das, was wir traditionell als »Sehen« bezeichnen. Das Wiederabrufen, oder die Weiterverarbeitung und Anreicherung, dieses Bildes ist ein Produkt der Top-down-Verarbeitung und betrifft das Bildgedächtnis und das Heraufbeschwören von Bildern vor dem geistigen Auge. Demnach beansprucht man teilweise dieselben neuronalen Schaltkreise, wenn man ein Bild sieht und wenn man sich später daran erinnert oder sich das Bild vorstellt.
Visuelle Assoziationen sind untrennbar mit der normalen Wahrnehmung verknüpft und Seherfahrungen beruhen fast immer auf dem Zusammenwirken von Bottom-up- und Top-down-Signalen.
WIE WICHTIG DIE TOP-DOWN-VERARBEITUNG und die Auswirkungen von Aufmerksamkeit und Gedächtnis auf die Wahrnehmung sind, wird sofort offensichtlich, wenn wir über das Betrachten von Kunstwerken nachdenken. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass sich die Aufmerksamkeit einer Person, die ein Kunstwerk betrachtet, wesentlich von der »Alltagswahrnehmung« unterscheidet, wie es der Wahrnehmungsforscher Pascal Mamassian von der Universität Paris genannt hat. Die Alltagswahrnehmung betrifft spezifische Aufgaben. Wenn wir eine Straße überqueren möchten, warten wir auf eine Lücke im Verkehr, bevor wir losgehen. Darum ist unsere Aufmerksamkeit stark auf die vorbeifahrenden Autos, auf ihre Geschwindigkeit und Größe fokussiert, und wir ignorieren irrelevante Informationen, etwa ob ein bestimmtes Auto ein VW oder ein Mercedes ist oder welche Farbe es hat. Der Wahrnehmung von bildender Kunst eine spezifische Aufgabe zuzuschreiben, ist sehr viel schwieriger. Als Betrachter nähern wir uns einem Kunstwerk wahrhaftig
Weitere Kostenlose Bücher