Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Reihe detaillierter Studien über 100000 Gesichtsausdrücke aus vielfältigen Kulturen und fand die von Darwin beschriebenen sechs zentralen Gesichtsausdrücke im Wesentlichen bestätigt. Mittlerweile hat man belegt, dass es zusätzlich zu diesen verbreiteten Ausdrücken kulturspezifische Nuancen gibt, die man als Fremder erkennen lernen muss, um das jeweilige Gefühl richtig zu deuten.
Gesichter liefern nicht nur dynamische Informationen, sondern auch statische. Die spontane dynamische Emotion, die man durch schnelle Bewegungen mit Augenbrauen und Lippen signalisiert, liefert Informationen über die eigene Einstellung, Absicht und Verfügbarkeit. Die statischen Gesichtssignale sind für anders geartete Informationen zuständig. So verrät die Hautfarbe einiges darüber, zu welcher Bevölkerungsgruppe eine Person möglicherweise gehört oder sogar, wo sie geboren wurde. Falten liefern Informationen über ihr Alter, die Form von Augen, Nase und Mund lässt auf ihr Geschlecht schließen. Auf diese Weise sendet das Gesicht nicht nur Botschaften über Gefühle und Stimmung aus, sondern auch über Fähigkeiten, Attraktivität, Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und andere Dinge.
Mit den Arbeiten von Evolutionsbiologen und Psychologen über die Dekonstruktion von Gefühlen erhielten Neurowissenschaftler eine Grundlage für erste Forschungen in diesem Bereich. Die betreffenden Neurowissenschaftler fragten: Repräsentieren die sechs universellen Gefühle elementare biologische Systeme – die Bausteine des Gefühlslebens? Wird jedes einzelne Gefühl von seinem eigenen System im Gehirn erzeugt? Oder besitzen alle Gefühle gemeinsame, einander überschneidende Komponenten, die auf einer Skala von positiv bis negativ angeordnet sind? Repräsentieren die sechs universellen Gefühle Punkte auf dieser Skala?
Die meisten Forscher auf diesem Gebiet sind heute der Auffassung, dass die sechs Hauptemotionen, sofern sie Punkte auf einer Skala repräsentieren, sowohl ganz individuelle neuronale Komponenten aufweisen als auch Komponenten, die sie mit anderen Gefühlen teilen. Außerdem glauben die meisten Wissenschaftler mittlerweile, dass Gefühle und die jeweiligen Gesichtsausdrücke nicht ganz und gar angeboren sind, sondern teilweise auf unseren früheren Erfahrungen mit Gefühlen sowie auf den Verknüpfungen beruhen, die wir zwischen bestimmten Emotionen und bestimmten Kontexten herstellen.
Die Dekonstruktion von Emotionen faszinierte die Neurowissenschaftler, weil sie ihnen Zugang zum Privattheater unseres Geistes verschaffte und die Möglichkeit bot, die biologische Erzeugung von Gefühlen zu erforschen. Zudem ließen sich nun folgende Fragen formulieren: Warum rufen bestimmte Kunstwerke so starke Gefühle in uns hervor? Wie werden emotionale Reaktionen auf Kunst erzielt? Welcher Art ist die kombinierte Reaktion der Wahrnehmungssysteme und der Gefühlssysteme im Gehirn auf übertriebene Darstellungen von Gesicht, Händen und Körper, wie wir sie im österreichischen Expressionismus finden? Wie gelingt es diesen Hirnsystemen letztlich zu demonstrieren, »wie sich die Seele des Menschen in seinem Körper Ausdruck verschafft«? 154
Wir wissen heute, dass Gefühle der unbewussten, subjektiven Bewertung von Situationen und Ereignissen um uns herum entspringen. Demnach liegt unserer bewussten gefühlsmäßigen Reaktion auf Kunst eine schrittweise Abfolge kognitiver Bewertungsprozesse zugrunde.
153 Bostrom, A., G. Scherf, M.-C. Lambotte und M. Pötzl-Malikova, Franz Xaver Messerschmidt 1736–1783: From Neoclassicism to Expressionism , Italien (Officina Libraria) 2010, S. 521.
154 Kris, E., Psychoanalytic Explorations in Art ,New York 1995, S. 190.
KAPITEL 20
DIE KÜNSTLERISCHE DARSTELLUNG VON GEFÜHLEN: GESICHTER, HÄNDE, KÖRPER UND FARBE
C harles Darwin, Paul Ekman und Wissenschaftler nach ihnen haben unterstrichen, dass Handbewegungen und andere Gesten, genau wie Gesichtsausdrücke, soziale Informationen übermitteln. Im Grunde erlauben die einheitlichen, symmetrischen Eigenschaften von Gesichtern, Körpern, Händen, Armen und Beinen den Wahrnehmungssystemen im Gehirn, alle Körper wie auch alle Gesichter ähnlich zu behandeln. 155
Abb. 20-1.
Oskar Kokoschka,
Selbstbildnis, eine Hand ans Gesicht gelegt (1918–1919).
Öl auf Leinwand.
Auf der Suche nach neuen Wegen, den Gefühlszustand ihrer Modelle zu vermitteln, rückten Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele daher nicht ausschließlich das Gesicht in
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