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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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Aspekte eines Gefühls signalisieren, aber die Signale in ihrer Gesamtheit mehr aussagen als die einzelnen Komponenten. Dies wird bei Vater Hirsch (Abb. 20-5) deutlich: Die untere Gesichtshälfte wirkt aggressiver als die obere Hälfte, die distanzierter erscheint. Doch gemeinsam verraten die Gesichtshälften viel mehr über ein komplexes und nuanciertes Gefühl als eine Hälfte allein.
    Untersuchungen von Joshua Susskind und seinen Mitarbeitern an der University of Toronto sowie neuere Studien von Tiziana Sacco und Benedetto Sacchetti in Turin weisen darauf hin, dass angsterfüllte Gesichtsausdrücke – oder, genau genommen, alle emotional aufgeladenen Bilder – die Betrachter erregen und damit die Aufnahme sensorischer Informationen begünstigen. Kokoschkas und Schieles Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Angst erleichtert ihnen, die Angst ihrer Modelle festzuhalten. Diese Darstellungen von Angst wecken ihrerseits Furcht in den Betrachtern. Durch das Hervorrufen von Furcht erregen die Künstler die Aufmerksamkeit der Betrachter und lassen sie so möglicherweise Aspekte des Porträts wahrnehmen, die sie sonst übersehen hätten.
    WIE LENKT EIN KUNSTWERK DIE AUFMERKSAMKEIT der Betrachter auf sich? In den 1960er-Jahren analysierte der russische Psychophysiker Alfred Yarbus mit einer wunderbaren Reihe von Experimenten die Augenbewegungen von Personen, die ein Kunstwerk betrachteten. Zu diesem Zweck entwickelte er festsitzende Kontaktlinsen, die mit Geräten zur Aufzeichnung der Augenbewegungen verbunden waren. Er stellte fest, dass die Zeit, die man für ein Merkmal aufwendet, proportional zu der darin enthaltenen Information ist. Bei Bildern von Gesichtern entfiel ein Großteil der Zeit erwartungsgemäß auf Augen, Mund und die allgemeine Gesichtskontur (Abb. 20-6, 20-7, 20-8). In einem Experiment ließ Yarbus eine Versuchsperson drei verschiedene Fotografien betrachten – eine junge Frau von der Wolga, das Gesicht eines Mädchens und die herrliche bemalte Büste der Königin Nofretete, eines der großen Werke altägyptischer Kunst. In allen drei Fällen verweilten die Augen der Versuchsperson besonders lange auf Augen und Mund des Abbilds, während auf andere Merkmale weniger Zeit verwendet wurde.

    Bei einem Folgeexperiment entdeckten C. F. Nodine und Paul Locher, dass die visuelle Wahrnehmung mehrere Phasen aufweist, die sich an den Scanbewegungen der Augen beim Betrachten eines Kunstwerks festmachen lassen. In der ersten Phase, dem perzeptuellen Scannen , erfolgt das Abtasten des gesamten Werks. In der zweiten Phase, Reflexion und Imagination , werden die Personen, Orte und Objekte auf der Leinwand identifiziert. In dieser Phase erfassen und verstehen die Betrachter den expressiven Charakter des Werks und fühlen sich darin ein. Die dritte Phase – Ästhetik – spiegelt die Gefühle der Betrachter wider sowie die Intensität ihrer ästhetischen Reaktion auf das Werk.
    Wenn wir zum ersten Mal ein Kunstwerk anschauen, sind die Fixationszeiten – die Phasen, in denen wir tatsächlich aufnehmen, was wir sehen – von sehr unterschiedlicher Länge. Viele dieser Fixationszeiten sind kurz. Werden wir mit dem Werk vertrauter, treten immer häufiger lange Fixationszeiten auf, weil wir vom allgemeinen Scannen zu spezifischerem Fokussieren übergehen und uns auf die Bereiche konzentrieren, die uns am meisten interessieren, um schließlich zu einer ästhetischen Bewertung zu gelangen. Interessanterweise zeigen diese Scan-Untersuchungen auch, dass Betrachter, die sich in einer bestimmten kunsthistorischen Epoche auskennen, fast umgehend die perzeptuelle Erkundung abschließen, um sich auf die emotionale und ästhetische Reaktion zu konzentrieren.
    François Molnar, der sich mit visueller Psychologie befasst hat, machte die faszinierende Beobachtung, dass verschiedene künstlerische Stilepochen auch unterschiedliche Betrachtungsmuster bewirken. Er verglich das Betrachten klassischer Kunstwerke der Hochrenaissance mit dem Betrachten von Kunstwerken aus den darauffolgenden Epochen des Manierismus und Barock. Experten halten den barocken und den manieristischen Malstil für komplexer als die klassische Malerei, weil diese sehr viel weniger Details enthält. Tatsächlich stellte Molnar fest, dass klassische Kunst großräumige, langsame Augenbewegungen auslöst, während manieristische und barocke Kunst kleine, schnelle Augenbewegungen hervorrufen, die häufiger spezifische Bereiche fokussieren.
    Diese Ergebnisse lassen

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