Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
den Blickpunkt, sondern auch Hände und Körper der Figuren, indem sie diese Körpermerkmale übertrieben oder verzerrt darstellten. Mit dem Körper konnten sie zusätzliche Informationen über den Fokus und die Gefühle einer Person transportieren. Der simple Vergleich von zwei Selbstporträts, eines von Oskar Kokoschka und eines von Egon Schiele (Abb. 20-1 und 20-2), zeigt unmittelbar, wie Gesten die vom Gesicht ausgedrückten Gefühle verstärken. Die verlegen zum Mund geführte Hand unterstreicht Kokoschkas Unsicherheit in seiner Beziehung zu Alma Mahler. Dagegen wirkt Schiele in seinem »knienden Selbstakt« trotz der höchst manierierten Haltung stolz und selbstbewusst.
Abb. 20-2.
Egon Schiele,
Kniender Selbstakt (1910).
Schwarze Kreide und Gouache auf Papier.
Die Aufmerksamkeit der Betrachter erregten diese Künstler nicht nur über die Darstellung von Gesichtern, Händen und Körpern, sondern auch, indem sie ihre künstlerischen Techniken offenbarten – sie verwendeten Farbe, um noch mehr Gefühle zu vermitteln, und Symbole, um das Erinnerungsvermögen der Betrachter herauszufordern. Auf diese Weise riefen die Künstler bei ihren Rezipienten nicht nur unbewusste emotionale Reaktionen auf die porträtierte Person hervor, sondern machten ihnen auch bewusst, welche künstlerischen Verfahren sie zu diesem Zweck eingesetzt hatten.
IN IHREN STUDIEN ÜBER VISUELLE WAHRNEHMUNG begaben sich Neurowissenschaftler auf die Suche nach einer biologischen Basis für die Mutmaßungen, die Darwin und die Künstler über Gesichter angestellt hatten. Sie fanden heraus, dass das Gesicht unter anderem deshalb eine so bedeutende Rolle in der Wahrnehmung spielt, weil die Areale für die Gesichtserkennung im menschlichen Gehirn mehr Raum einnehmen als alle anderen Hirnregionen, die mit dem Erkennen von visuellen Objekten zu tun haben. Wie erwähnt, verfügt das Gehirn über sechs auf die Gesichtserkennung spezialisierte separate Bereiche, die direkt mit dem präfrontalen Cortex – dem Areal für die Beurteilung von Schönheit, moralische Bewertungen und Entscheidungsfindung – und der Amygdala – der Konzertmeisterin der Gefühle – verbunden sind. Diese Entdeckungen zur Biologie des Gehirns machten die Arbeiten der österreichischen Expressionisten in ihrer Wirkung besser verständlich. So trägt die Tatsache, dass die Repräsentation von Gesichtern im unteren temporalen Cortex so viel Raum einnimmt, vermutlich entscheidend dazu bei, dass wir subtile Unterschiede in Blicken, im Ausdruck oder in der Färbung von Gesichtern problemlos erkennen, ähnlich subtile Nuancen in Landschaften hingegen nicht. Außerdem bestätigen die Ergebnisse die Vermutung, dass sich das Gehirn bevorzugt für ein Gesicht entscheidet, wenn es wählen muss, welchem Bild es seine Aufmerksamkeit zuwendet. Natürlich liefert das Gesicht eine beeindruckende Fülle an Informationen – es verrät die Identität der betreffenden Person, ihre Gefühlslage und Emotionen und unter gewissen Umständen auch ihre Gedanken. Zudem gibt es Mechanismen im Gehirn, die besonders empfindlich für die Blickrichtung einer Person sind. Sie verarbeiten Blicke umgehend und können beim Betrachter eine blitzschnelle Verlagerung der Aufmerksamkeit auslösen – nicht nur auf die Blickrichtung einer Person, sondern auch auf andere Hinweise über ihren Gefühlszustand, etwa die Haltung des Kopfes.
So haben Uta Frith und ihre Mitarbeiter am University College London festgestellt, dass das Gehirn höchst unterschiedlich reagiert, wenn wir unmittelbar in die Augen eines unbekannten Gesichts schauen oder wenn wir das Gesicht nur ansehen. Auf direkten Augenkontakt reagieren wir intensiver, weil nur dieser das dopaminerge System des Gehirns wirksam stimuliert, das mit der Antizipation von Belohnung und daher mit Annäherung verknüpft ist. Diese Eigenschaften unserer Wahrnehmungs- und Emotionssysteme im Gehirn wurden von Kokoschka und Schiele stillschweigend angezapft; ihre Porträts lenken den Blick auf das Gesicht und die Augen, diejenigen Teile des Körpers, die sich am ehesten für Verfremdungen anbieten und am meisten über Gefühle offenbaren. Im Gegensatz zu Porträtmalern früherer Zeiten, die das Gesicht oft mehr oder weniger von der Seite abbildeten, malten Kokoschka und Schiele ihre Modelle im Allgemeinen frontal, was die Betrachter zwingt, ihnen direkt ins Gesicht zu blicken.
Die Wirkung dieser Darstellungsweisen verdeutlichen drei Porträts, die Kokoschka 1909 von
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