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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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Mitgliedern der Familie Hirsch – Vater und zwei Söhne – erstellte (Abb. 20-3, 20-4, 20-5). Zuerste malte Kokoschka einen der Söhne, Ernst Reinhold (Der Trancespieler), der die Betrachter direkt anblickt. Durch den hellen, vielfarbigen Hintergrund wird Ernst in den Vordergrund und ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit gerückt. Den Bruder von Ernst, Felix Albrecht (Felix Albrecht Harta), malt Kokoschka mit nach unten gerichtetem Blick; sein Spitzbart ist ein Liniengewirr, das ihn viel älter aussehen lässt als seine 25 Jahre. Die langen Finger des jungen Mannes stechen hervor; sie sind gelblich, mit grünblauen Konturen und geschwollenen Gelenken, die Ringen ähneln. Laut dem Kunsthistoriker Tobias Natter wollte sich Kokoschka mit dieser despektierlichen Darstellung künstlerisch von Felix Albrecht distanzieren. Dieser war ein sehr konventioneller Maler, der Kokoschkas Werke bewunderte, aber als Künstler weit unter ihm stand. Der Vater (Vater Hirsch) wirkt am unsympathischsten. Er schaut die Betrachter nicht direkt an, sondern blickt leicht nach links. Er zeigt seine Zähne und bleckt sie, als wollte er gleich zuschnappen. Um die Figur des Vaters vom Hintergrund zu trennen, lässt Kokoschka einen gelben Pinselstrich – wie einen Blitzstrahl – an der rechten Schulter und dem Oberarm des alten Mannes entlanglaufen, ähnlich wie bei Felix’ Händen. Ein früherer Titel dieses Gemäldes lautete Brutaler Egoist . In seinen Memoiren schrieb Kokoschka:
    Den Vater habe ich als einen starrköpfigen alten Mann gesehen, der, in Wut geraten, was leicht geschah, die großen falschen Zähne bleckte. Dieser Mann, Vater Hirsch, … hat mich merkwürdigerweise ganz gern gehabt. Natürlich hat das Porträt das Verhältnis vom Vater zum Sohn nicht im geringsten verbessert, was von mir auch nicht versucht worden ist, denn mir gefiel der Mann in seinem Zorn, und Vater Hirsch war stolz darauf, porträtiert zu werden. Er hatte das Bild in seiner Wohnung hängen und es sogar bezahlt. 156
    Von den drei Männern spricht uns nur Ernst als Mensch an. Dennoch sind sie alle faszinierend in ihrem Innenleben, das Kokoschka vor uns enthüllt. In den Porträts von Ernst Reinholds Bruder und Vater sind die Farben gedämpft und den Kopf umgibt eine leuchtende Aura. Die Augen sind asymmetrisch, eins größer als das andere, und der Blick ist abgewandt, als sei der Porträtierte in seinem Selbst gefangen und wolle keinen direkten Kontakt mit Kokoschka aufnehmen. Nur Ernst schaut die Betrachter geradeheraus an und scheint an einem Gedanken- und Gefühlsaustausch interessiert zu sein.
    Kokoschka vermittelt diese Einblicke auf zweierlei Weise. Einerseits geht es ihm darum, nicht in erster Linie »das Äußerliche eines Menschen« festzuhalten, sondern die »Summe eines Lebewesens«, wie es in seiner Autobiografie heißt. 157 Andererseits verstärkt er die emotionale Wirkung seiner Porträts noch, wie wir gesehen haben, indem er die Kunstgriffe seiner Arbeit offenlegt – energische, geschichtete Pinselstriche und Kratzer, die er mit seinen Fingern oder dem Pinselstiel durch die feuchte Farbe zieht. Diese Techniken erleichtern in vielen Fällen das Erkennen der Gesichter. Überdies ist der Raum, in den Kokoschka seine Figuren stellt, nur vage definiert und häufig ein wenig instabil, was eine taumelige, angstvolle Stimmung erzeugt.

    Abb. 20-3.
Oskar Kokoschka,
Der Trancespieler (Schauspieler Ernst Reinhold) (1909).
Öl auf Leinwand.

    Abb. 20-4.
Oskar Kokoschka,
Felix Albrecht Harta (1909).
Öl auf Leinwand.

    Abb. 20-5.
Oskar Kokoschka,
Alter Mann, Vater Hirsch (1909).
Öl auf Leinwand.
Lentos Kunstmuseum Linz.
    EKMAN, DER GESICHTSAUSDRÜCKE ERFORSCHT HAT, legt dar, dass man Gefühle an Veränderungen im oberen Teil des Gesichts (Stirn, Augenbrauen und Augenlider) und im unteren (Unterkiefer und Lippen) erkennen kann. Laut Ekman ist die obere Gesichtshälfte besonders wichtig, um Angst und Traurigkeit auszudrücken, während die untere, insbesondere der Mund, Gefühle wie Glück, Wut oder Ekel vermittelt. Die Augen geben uns jedoch entscheidende Hinweise darauf, ob ein Lächeln echt oder aufgesetzt ist. Wie erwähnt, ist die Sehgrube in unserer Netzhaut so klein, dass wir zu einem gegebenen Zeitpunkt immer nur einen Teil des Gesichts fokussieren können. Mithilfe der schnellen Augenbewegungen, der Sakkaden, ist das Gehirn jedoch in der Lage, das Bild zu vervollständigen. Daraus folgt, dass verschiedene Bereiche des Gesichts zwar unterschiedliche

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