Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
neues Gesicht wahrnehmen, sind wir auf unsere Erfahrungen mit Gefühlen in unterschiedlichen Kontexten angewiesen, wenn es um die Reaktion auf die Gefühle anderer Menschen geht. Im Gegensatz zu unseren instinktiven emotionalen Reaktionen auf ein lebensbedrohendes Signal rekonstruieren wir erlernte Emotionen in unserem Gehirn ganz ähnlich wie visuelle Wahrnehmungen; dabei stützen wir uns teilweise auf das, was unser Gehirn bereits von vornherein über die Welt der Gefühle weiß, und teilweise auf das, was es darüber gelernt hat.
Erkenntnisse über die Biologie der Gefühle erlangt man in zwei Schritten. Zunächst brauchen wir eine psychologische Grundlage, um ein Gefühl analysieren zu können, und dann müssen wir die Hirnmechanismen untersuchen, auf denen dieses Gefühl beruht. So wie die Entwicklung einer aussagekräftigen Neurowissenschaft der Wahrnehmung die Kognitionspsychologie der Wahrnehmung als Fundament benötigte, erfordert auch die Suche nach den elementaren biologischen Mechanismen von Emotion und Empathie eine Basis in der Kognitions- und Sozialpsychologie von Emotion und Empathie. Im Grunde ist die Biologie der Gefühle eine relativ junge Disziplin der Hirnforschung – lange Zeit untersuchte man emotionale Erfahrungen nur von einer psychologischen Warte aus.
ERNST KRIS UND ERNST GOMBRICH führten die Dekonstruktion von Emotionen im Expressionismus auf drei ältere künstlerische Traditionen zurück. Die Erste war die Karikatur, die Agostino Carracci im 16. Jahrhundert begründete. Die Grundelemente der Übertreibung schlugen sich in den expressiven Gemälden von Matthias Grünewald und Pieter Bruegel dem Älteren nieder; weitergeführt wurden sie später in den manieristischen Gemälden von Tizian, Tintoretto und Veronese, in den Bildern von El Greco sowie schließlich in den Werken der Postimpressionisten van Gogh und Munch. Die zweite künstlerische Tradition, auf der die expressionistische Dekonstruktion der Emotion beruhte, waren die religiösen Skulpturen der Gotik und Romanik. Die dritte war die Tradition der Übertreibung in der österreichischen Kunst, die Ende des 18. Jahrhunderts mit den grimassierenden Charakterköpfen von Franz Xaver Messerschmidt ihren Höhepunkt erreichte.
Im Jahre 1906 veröffentlichte der Wiener Fotograf Josef Wlha 45 Bilder von den Gipsabgüssen dieser Köpfe, welche sich im Besitz des Fürsten von Liechtenstein befanden. Die Fotografien erregten das Interesse der Künstlergemeinschaft – selbst Pablo Picasso erwarb einen Satz Bilder. 1908, nach über hundert Jahren Geringschätzung und Verachtung, wurden Messerschmidts Charakterköpfe im Museum des Unteren Belvedere ausgestellt; im etwas höher gelegenen Teil des Museums, dem Oberen Belvedere, waren später Werke von Klimt, Kokoschka und Schiele zu sehen. Emil und Berta Zuckerkandl hatten 1886 zwei von Messerschmidts Köpfen gekauft und auch Ludwig Wittgenstein besaß einen. Dieses verbreitete Interesse veranlasste Antonia Bostrom zu der Bemerkung: »Das unterstreicht, dass die Köpfe immer wieder eine große Anziehungskraft auf Personen ausüben, die sich der Erforschung der menschlichen Psyche verschrieben haben.« 153
Die österreichischen Expressionisten rückten auf eine moderne künstlerische Weise vier große emotionale Themen in den Vordergrund, die auch Sigmund Freud und Arthur Schnitzler unabhängig voneinander in ihren Arbeiten behandelt hatten: 1. Sexualität ist allgegenwärtig und bereits in der frühen Kindheit angelegt, 2. der Sexualtrieb und das erotische Erleben von Frauen existieren unabhängig von der männlichen Sexualität und sind ihr ebenbürtig, 3. Aggression findet sich überall, und 4. zwischen den instinkthaften Trieben der Sexualität und der Aggression besteht ein fortwährender Kampf, der Ängste schürt.
Durch die Behandlung dieser vier Themen lösten die Expressionisten bei den Rezipienten ihrer Kunst zwei breit gefächerte, miteinander verknüpfte Gruppen affektiver Reaktionen aus – emotionale und empathische. Unsere emotionale Reaktion auf ein Gemälde umfasst sowohl unbewusste emotionale Reaktionen als auch bewusste Gefühle positiver, negativer oder neutraler Art. Diese Unterscheidung zwischen unbewusster Emotion und bewusstem Gefühl entspricht der Unterscheidung zwischen unbewusstem Entdecken (Empfinden) und bewusstem Erkennen (Wahrnehmen); sie geht auf die von Freud wie auch von William James gewonnene Erkenntnis zurück, dass ein Großteil unseres Erlebens
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