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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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Vernunft untrennbar miteinander verbunden sind. Heute wissen wir: Wenn wir vor einer kognitiv anspruchsvollen Entscheidung stehen, etwa ob wir uns einer komplizierten neuen Aufgabe widmen oder ob wir einem Gegner den Krieg erklären sollten oder nicht, dann fragen wir uns nicht nur: »Können wir mit dem, was wir tun wollen, tatsächlich erfolgreich sein?«, sondern auch: »Ist die Aufgabe den emotionalen Aufwand wert? Wird sie die Mühe lohnen?«
    FREUD WIE AUCH DARWIN ERKANNTEN, dass menschliches Verhalten eine Vielzahl emotionaler Reaktionen hervorrufen kann, die zwischen den extremen Polen der Annäherung und der Vermeidung liegen. Zudem handelt es sich bei dieser Menge emotionaler Reaktionen – diesem Gradienten –, die sich vom einen Pol zum anderen erstreckt, keineswegs um Alles-oder-nichts-Ereignisse. Die Reaktionen werden vielmehr von einer weiteren Skala zwischen niedriger und hoher Intensität oder zwischen einem niedrigen und hohen Erregungsniveau modifiziert.
    Laut Darwin gibt es sechs universelle Komponenten, die auf einer Skala zwischen Annäherung und Vermeidung liegen. Dazu gehören die beiden wichtigsten emotionalen Urformen – Glück (dessen Erregungsniveau von Ekstase bis zu heiterer Gelassenheit reicht und zur Annäherung einlädt) und sein Gegenpol Furcht (von Entsetzen bis Besorgnis), die Vermeidung bewirkt. Zwischen diesen beiden Extremen liegen vier Unterarten: Überraschung (von Bestürzung bis Ablenkung), Abscheu (von äußerster Verachtung bis Langeweile), Traurigkeit (von tiefem Kummer bis Nachdenklichkeit) und Zorn (von Wut bis Ärger). Darwin wies ausdrücklich darauf hin, dass es Mischformen aus den einzelnen Emotionen geben kann. So ist Ehrfurcht eine Mischung aus Furcht und Überraschung, aus Furcht und Vertrauen entsteht Unterwerfung, und Vertrauen und Freude ergeben Liebe.
    WIE DRÜCKEN MENSCHEN DIESE SECHS Gefühle aus, und wie übermitteln sie sie anderen Personen bei sozialer Kommunikation? Darwin vermutete, dass wir einen Großteil unserer Gefühle mit einem begrenzten Repertoire an Gesichtsausdrücken vermitteln. Diese Folgerung beruhte auf seiner Erkenntnis, dass Menschen, als soziale Tiere, ihren Gefühlszustand anderen mitteilen müssen, und er fand heraus, dass sie dies mithilfe von Gesichtsausdrücken tun. So kann ein Mensch einen anderen durch ein fragendes Lächeln anziehen oder mit einem strengen, drohenden Blick abschrecken.
    Laut Darwin ist der Gesichtsausdruck das primäre soziale Signalsystem für menschliche Emotionen und somit zentral für die soziale Kommunikation. Da alle Gesichter darüber hinaus die gleiche Zahl an Merkmalen besitzen – zwei Augen, eine Nase, einen Mund –, sind die sensorischen und motorischen Aspekte der Gefühlsübermittlung universell und somit kulturübergreifend. Zudem behauptete er, sowohl die Fähigkeit, Gesichtsausdrücke zu erzeugen, als auch die Fähigkeit, den Gesichtsausdruck einer anderen Person zu lesen, seien angeboren. Demzufolge müssten weder das Senden noch das Empfangen emotionaler und sozialer Signale erlernt werden.
    Tatsächlich beginnt die kognitive Entwicklung der Gesichtserkennung schon im Säuglingsalter. Wie wir gesehen haben, verlieren Babys mit sechs Monaten die Fähigkeit, zwischen verschiedenen nichtmenschlichen Gesichtern zu unterscheiden, etwa zur gleichen Zeit, wie sie die Fähigkeit erwerben, zwischen verschiedenen Menschengesichtern zu unterscheiden. Das Gleiche trifft auf die Sprache zu: Japanische Säuglinge können kurz nach der Geburt problemlos zwischen den Lauten »l« und »r« unterscheiden, verlieren diese Fähigkeit jedoch mit zunehmendem Alter, weil ihre Muttersprache diese Differenzierung nicht verlangt. Demnach lernen Babys, genauer zwischen Gesichtsmerkmalen und Hautfärbungen der Menschen in ihrer Umgebung (der »Eigengruppe«) zu differenzieren als zwischen Menschen anderer Ethnien, mit denen sie im Säuglingsalter nicht zusammenkommen (der »Fremdgruppe«). Darwin behauptete, das Vermögen, zwischen den sechs Arten des Gesichtsausdrucks zu unterscheiden, sei weltweit über alle Menschengruppen hinweg genetisch festgelegt und evolutionär erhalten geblieben. Selbst von Geburt an taube und blinde Kinder zeigten diese universellen Gesichtsausdrücke.
    Darwins Beobachtung, dass Gesichter wichtige Werkzeuge zur Übermittlung von Gefühlen seien, wurde ein Jahrhundert später von dem amerikanischen Psychologen Paul Ekman weiterverfolgt. Ende der 1970er-Jahre untersuchte Ekman in einer

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