Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
unbewusst ist. Unsere empathische Reaktion ist das Nachempfinden der Emotionen einer vom Künstler dargestellten Figur – wir erkennen ihre geistige Verfassung und möglicherweise auch ihre Gedanken und Sehnsüchte.
HÄUFIG BEURTEILEN WIR DEN GEMÜTSZUSTAND einer Person nach ihrem Gesichtsausdruck und ihrer Haltung, und nach ebendiesen Hinweisen richten wir uns auch, wenn wir die Figur in einem Porträt analysieren. Überdies kann uns das aufmerksame Beobachten der Nuancen im Ausdruck anderer Menschen, ob in der Realität oder der Kunst, auch eine innere Schablone für unseren eigenen Ausdruck liefern, sodass wir ein besseres Gespür dafür entwickeln, was unser Gesicht anderen Personen in einem bestimmten Augenblick über unsere eigenen Gefühle sagt.
Was sind Gefühle? Warum brauchen wir sie? Gefühle sind instinktive biologische Mechanismen; sie machen unser Leben bunt und helfen uns bei der Auseinandersetzung mit den grundlegenden Herausforderungen des Lebens – der Suche nach Wohlbefinden und der Vermeidung von Leid. Ein Gefühl ist ein Handlungsbedürfnis in Reaktion auf Menschen oder Dinge, die für uns von Bedeutung sind. Wahrscheinlich hat sich das volle, reiche Spektrum menschlicher Gefühle aus dem Bedürfnis zu fundamentalen Handlungen bei einfachen Organismen wie Schnecken und Fliegen entwickelt. Solche Tiere kennen lediglich zwei große, widerstreitende Klassen von Motiven – Annäherung und Vermeidung . Die erste Klasse motiviert zur Annäherung an Nahrung, Sex und andere angenehme Reize, während die zweite dazu motiviert, Raubfeinden oder schädlichen Reizen aus dem Wege zu gehen. Diese beiden einander gegenüberstehenden Gruppen von Reaktionen sind im gesamten Verlauf der Evolution erhalten geblieben, und sie strukturieren und steuern menschliches Verhalten.
Gefühle entspringen dem tiefsten Kern unserer körperlichen und geistigen Verfassung und dienen vier unabhängigen, wenn auch miteinander verknüpften Zielen. Gefühle bereichern unser Seelenleben. Sie erleichtern soziale Kommunikation, einschließlich der Wahl eines Lebenspartners. Sie beeinflussen unsere Fähigkeit zu rationalem Handeln. Und – was vielleicht am wichtigsten ist – sie helfen uns, potenziellen Gefahren zu entkommen und mögliche vorteilhafte oder wohltuende Quellen aufzuspüren.
Die Vorstellung, dass Gefühle vielfältigen Zwecken dienen, hat sich erst mit der Zeit entwickelt. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hielt man sie für private, persönliche Erfahrungen, deren vornehmliche Funktion darin bestand, unser Geistesleben zu bereichern und farbiger zu gestalten. 1872 wich Charles Darwin von dieser festgefügten, konservativen Denkweise ab und präsentierte die radikale Idee, dass Gefühle neben der Färbung unseres Lebens eine wichtige evolutionäre Aufgabe erfüllen: Sie erleichtern die soziale Kommunikation. In seinem Buch Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren schrieb Darwin Gefühlen soziale und adaptive Funktionen, zum Beispiel bei der Wahl des Sexualpartners, zu – und damit einen entscheidenden Anteil am Überleben der Spezies.
Laut Freud, der sich eingehend mit Darwins Schriften befasste und stark von ihnen beeinflusst wurde, spielen Gefühle noch eine dritte Rolle – sie beeinflussen unsere Fähigkeit, rational zu handeln. Er legte dar, dass Gefühle für das Bewusstsein und bewusste Urteile von zentraler Bedeutung sind. Freud vermutete sogar, die Evolution habe das Bewusstsein hervorgebracht, weil derartig ausgestattete Organismen ihre Emotionen »empfinden« könnten. Zudem glaubte er, dass das bewusste Empfinden von Emotionen unsere Aufmerksamkeit auf die autonomen Reaktionen des Körpers lenke; dann würden wir Informationen aus diesen unbewussten Reaktionen nutzen, um komplexe Handlungen zu planen und Entscheidungen zu fällen. Auf diese Weise hätten bewusste Gefühle einen tiefgreifenderen Einfluss als instinktive emotionale Reaktionen.
Freuds Idee bedeutete einen weiteren Bruch mit der Vergangenheit. Philosophen hatten Gefühle in Opposition zur Vernunft gesehen, insbesondere in Opposition zu rationaler Entscheidungsfindung. Um intelligente, wohldurchdachte Entscheidungen zu fällen, so haben Philosophen traditionell argumentiert, müssten wir unsere Gefühle unterdrücken, damit die Vernunft regieren könne. Klinische Erfahrungen überzeugten Freud vom Gegenteil. Er stellte fest, dass Gefühle unbewusst viele unserer Entscheidungen beeinflussen und dass Gefühl und
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