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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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instinktiven) Komponenten von Gefühlszuständen und vielleicht auch an den bewussten (oder kognitiven).
    Die Funktionsweise der direkten und indirekten Bahn liefert möglicherweise eine physiologische Basis für die James-Lange-Theorie, dass ein bewusstes, von der Großhirnrinde übermitteltes Gefühl, das den vorderen Cortex aktiviert, nicht vor, sondern nach einer körperlichen Reaktion auftritt. Der erste Schritt wäre die schnelle, automatische, unbewusste Beurteilung vom emotionalen Wert eines Reizes durch die Amygdala, die angemessene physiologische Reaktionen in Gang setzt und steuert. Darauf führen der Hypothalamus und das vegetative Nervensystem die Reaktionen aus, indem sie detaillierte Anweisungen an den Körper senden. Die Reaktionen erfolgen nicht nur im Gehirn, sondern auch im Rest des Körpers: Wir bekommen feuchte Hände, unsere Muskeln spannen sich an und das Herz hämmert. Auch wenn wir uns dessen nicht umgehend bewusst sind, kann uns ein äußerst unangenehmes Gefühl von Angst überkommen.
    Man nimmt an, dass auf den Verbindungen der Amygdala zum Sehsystem und zu anderen sensorischen Hirnarealen die bemerkenswerte Fähigkeit des Gehirns beruht, einen biologisch bedeutsamen visuellen Reiz – zum Beispiel ein gefährlich aussehendes Tier – in ein Gefühl, eine bewusste emotionale Reaktion zu überführen. Wie erwähnt, ist die vordere Inselrinde mit dem mittleren Teil des Thalamus verbunden, der seinerseits mit emotionalen Informationen wie Schmerz und sinnlicher Berührung zu tun hat. Dass wir die Aktivität der Amygdala und ihre wechselseitigen Verknüpfungen mit der vorderen Inselrinde untersucht haben, hat uns schließlich in die Lage versetzt, unter die Oberfläche des geistigen Lebens vorzudringen und der Frage nachzugehen, in welcher Beziehung bewusste und unbewusste Erfahrungen zueinander stehen – dies war der Heilige Gral Freuds psychoanalytischer Theorien.
    Wie ließen sich diese Erkenntnisse auf ein Porträt von Kokoschka oder Schiele anwenden? Unsere erste Reaktion auf die hervorstechendsten Merkmale der Bilder von österreichischen Malern der Moderne erfolgt automatisch. Die übertriebenen Körper- und Gesichtsmerkmale oder die expressive Nutzung von Farbe und Textur aktivieren die Amygdala über relativ direkte Bahnen, ähnlich der Bahn, über die der Schockreiz in LeDoux’ Experimenten verläuft. Es ist tatsächlich so, als versetze uns ein solches Gemälde einen leichten Schock. Darüber hinaus verarbeiten wir die übrigen sensorischen Merkmale des Gemäldes (und vielleicht auch den Kontext, in dem wir das Gemälde sehen) und gleichen sie mit unserer ersten Reaktion ab. Dies erfolgt in erster Linie über die oben beschriebenen indirekten Bahnen. Auf diese Weise wird ein Kokoschka- oder Schiele-Porträt zu einer lebhaften emotionalen Erfahrung.
    Die Antwort auf die von William James gestellte Frage, wie ein einfach wahrgenommenes Objekt zu einem emotional empfundenen Objekt wird, lautet demnach: Die Porträts sind zu keiner Zeit einfach wahrgenommene Objekte. Sie ähneln eher dem gefährlichen Tier, das in einiger Entfernung unseren Weg kreuzt – es wird von uns wahrgenommen und löst Empfindungen aus.
    DAS GEHIRN WANDELT ALSO JAMES’ einfach wahrgenommenes Objekt in ein bewusst empfundenes Gefühl um. In dem neuronalen System, das für die Wahrnehmung und Koordination von Emotionen zuständig ist, spielt die Amygdala eine zentrale Rolle – insbesondere, was die folgenden vier Aspekte betrifft: 1) das Erlernen der emotionalen Bedeutung von Reizen durch Erfahrung, 2) das Erkennen der Bedeutung dieser Erfahrung, wenn sie erneut auftritt, 3) das Koordinieren vegetativer, endokriner und anderer physiologischer Reaktionen, die der emotionalen Bedeutung der Erfahrung angemessen sind, und, worauf Freud als Erster hingewiesen hat, 4) das Abgleichen des emotionalen Einflusses gegen andere kognitive Aspekte, wie Wahrnehmung, Denken und Entscheidungsfindung.
    Neben der Vernetzung mit allen wichtigen sensorischen Arealen der Hirnrinde – die mit Sehen, Riechen, Fühlen, Schmerzempfinden und Hören in Zusammenhang stehen – besitzt die Amygdala umfangreiche Verbindungen zum Hypothalamus und dem vegetativen Nervensystem. Außerdem ist sie mit der vorderen Inselrinde verbunden, die für das bewusste Empfinden unserer körperlichen Reaktionen zuständig ist, und auch mit kognitiven Strukturen wie dem präfrontalen Cortex und der visuellen »Was«-Bahn für die Wahrnehmung von Objekten.

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