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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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Kurz gesagt, kann die Amygdala mit fast jeder Hirnregion kommunizieren, die mit Gefühlen zu tun hat. Angesichts dieser weitreichenden Vernetzung sehen Paul Whalen von der University of Wisconsin, Elizabeth Phelps von der New York University sowie Ray Dolan und seine Mitarbeiter die vordringliche Aufgabe der Amygdala darin, die Reaktionen dieser neuronalen Schaltkreise auf emotionale Reize zu koordinieren, indem sie je nach Art des Reizes die benötigten Schaltkreise aktiviert und die nicht benötigten deaktiviert.
    Nach dieser Auffassung dirigiert die Amygdala die Verarbeitung aller emotionalen Erfahrungen, seien sie positiver oder negativer Art. Das tut sie, indem sie uns dazu bringt, unsere Aufmerksamkeit auf emotional bedeutsame Reize zu richten. Zudem behaupten Daniel Salzman und Stefano Fusi von der Columbia University, dass die Amygdala sowohl die Valenz der Emotionen (von positiver Annäherung bis zu negativer Vermeidung) als auch ihre Intensität (den Grad der Erregung) codiert. Dazu passend weisen von Phelps durchgeführte Experimente mit bildgebenden Verfahren darauf hin, dass die Amygdala auf eine Vielzahl von Gesichtsausdrücken reagiert. Besonders empfindlich ist die Amygdala in der linken Hirnhälfte – auf einen ängstlichen Ausdruck antwortet sie mit verstärkter Aktivität, auf einen glücklichen mit verminderter.
    Weitere Erkenntnisse über die Rolle der Amygdala in der Verarbeitung menschlicher Emotionen haben Studien über Patienten mit dem Urbach-Wiethe-Syndrom erbracht. Diese Erkrankung führt zu einer Degeneration der Amygdala. Tritt sie früh im Leben auf, erlernen die Betroffenen die Signale nicht, die ihnen ermöglichen, einen angsterfüllten Gesichtsausdruck und subtile Gefühlsnuancen bei ihrem Gegenüber zu erkennen. Sie neigen vorschnell dazu, anderen Menschen zu vertrauen – möglicherweise, weil sie den Ausdruck von Angst nicht verarbeiten können, – und haben Probleme, die Ziele, Erwartungen und Gefühlszustände anderer zu erfassen. Die Sehbahnen und Gesichtserkennungsareale sind bei Urbach-Wiethe-Patienten jedoch intakt; daher können sie auf komplexe visuelle Reize, auch auf Gesichter, angemessen reagieren. So sind sie in der Lage, ihnen bekannte Leute auf Fotos zu identifizieren. Demzufolge ist nicht die Gesichtserkennung, sondern nur die Verarbeitung der vom Gesicht ausgesendeten emotionalen Signale gestört.
    Um die Mechanismen zu verstehen, die dieser Unfähigkeit, die Gefühle anderer zu lesen, zugrunde liegen, untersuchten Ralph Adolphs, Damasio und ihre Kollegen eine Person mit dem Urbach-Wiethe-Syndrom. Sie stellten fest, dass die Unfähigkeit der Person, bestimmte Gefühlsausdrücke zu erkennen, nicht etwa an einem Unvermögen zu emotionalen Empfindungen lag. Vielmehr war sie nicht imstande, Informationen von den Augen abzulesen, die ja besonders beredt sind, wenn es um den Ausdruck von Angst geht. Und dieses Unvermögen beruhte einfach auf der Tatsache, dass Urbach-Wiethe-Patienten die Augen anderer Menschen nicht fokussieren. Da der Mund beim Erkennen von Gefühlen – zum Beispiel Glück – häufig wichtiger ist als die Augen, nimmt man an, dass Urbach-Wiethe-Patienten beim Identifizieren solcher Gefühle weniger Schwierigkeiten haben als beim Erkennen von Angst.
    Phelps und Adam Anderson haben bestätigt, dass Schädigungen der Amygdala die Fähigkeit beeinträchtigen, Gesichtsausdrücke zu interpretieren, jedoch nicht die Fähigkeit, Gefühle zu empfinden. Infolgedessen äußerten sie die Vermutung, dass die Amygdala im gesunden menschlichen Gehirn bei emotionalen Zuständen zwar aktiv und von entscheidender Bedeutung für das Erkennen von Gefühlen ist, diese Gefühlszustände jedoch nicht erzeugt . Laut Phelps ist die Amygdala bei emotionalen Reaktionen vor allem an Wahrnehmungsprozessen beteiligt: Sie analysiert ankommende sensorische Informationen, kategorisiert sie und benachrichtigt dann andere Hirnregionen, damit eine angemessene emotionale Reaktion erfolgen kann. Weitere Untersuchungen von Urbach-Wiethe-Patienten haben erbracht, dass uns die Verbindungen der visuellen »Was«-Bahn zur Amygdala ermöglichen, Hinweise von Gesichtern und anderen Körperteilen, die Gefühle signalisieren, zu analysieren. Diese Hinweise erleichtern die visuelle Verarbeitung emotional besetzter Reize. Und das wiederum erklärt vermutlich, warum die von Klimt, Kokoschka und Schiele dargestellten emotional aufgeladenen Gesichter, Hände und Körper unsere Aufmerksamkeit

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