Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Erster den Hypothalamus mit unbewussten Emotionen in Verbindung; Freud stellte anschließend die Verbindung zwischen unbewussten Emotionen und Instinkten her. Bard und Cannons Ergebnisse veranlassten sie zu der Behauptung, dass der Hypothalamus die entscheidende Struktur für die Übermittlung unbewusster emotionaler Reaktionen und Instinkte sei. Die bewusste Wahrnehmung von Emotionen – Gefühle – schrieben sie der Großhirnrinde zu.
HEUTIGE THEORIEN ÜBER EMOTIONEN stehen auch unter dem Einfluss der Kognitionspsychologie und der Entwicklung empfindlicherer Messgeräte für physiologische Veränderungen im Körper. Die Kognitionspsychologie betrachtet das Gehirn als Kreativitätsmaschine, die aus einem oft verwirrenden Durcheinander von Umwelt- und Körpersignalen zusammenhängende Muster herausfiltern muss. Als der Sozialpsychologe Stanley Schachter von der Columbia University 1962 diese Sichtweise auf Cannons Kampf-oder-Flucht-Reaktion anwandte, entwickelte er die Theorie, dass kognitive Prozesse unspezifische vegetative Signale aktiv und kreativ in spezifische emotionale Signale übersetzen.
Schachter vermutete, verschiedene soziale Kontexte müssten unterschiedliche Gefühlsempfindungen hervorrufen, auch wenn die physiologischen Reaktionen des Körpers dieselben seien. Zur Überprüfung dieser Idee führte er ein erfindungsreiches Experiment durch. Er brachte junge Männer, die sich für den Versuch zur Verfügung stellten, in sein Labor. Sie erhielten eine angebliche Vitaminspritze, während ihnen in Wirklichkeit Adrenalin injiziert wurde, das die sympathische Komponente ihres vegetativen Nervensystems anregen und zu schnellerem Puls und feuchten Händen führen würde. Dann wurden die Versuchspersonen in zwei Gruppen geteilt. Zu den einen gesellte sich ein Eingeweihter, der euphorisch herumalberte; zu den anderen kam eine Person, die genervt tat, sich massiv über die Versuchsanordnungen beschwerte und schließlich den Versuch abbrach. Als Schachter die Männer später befragte, fand er heraus, dass diejenigen, die mit der albernen Person im Raum gewesen waren, die von ihnen selbst empfundene undifferenzierte vegetative Erregung ebenfalls als Albernheit beschrieben; die Männer, die mit der aggressiven Person zusammengewesen waren, beschrieben ihren Gefühlszustand dagegen als gereizt.
Somit bestätigte Schachter Cannons Theorie, indem er zeigte, dass die bewusste emotionale Reaktion eines Menschen nicht nur vom spezifischen Charakter der physiologischen Signale selbst bestimmt wird, sondern auch vom Kontext , in dem diese Signale auftreten. Im Zusammenhang mit visueller Wahrnehmung haben wir bereits erfahren, dass das Gehirn keine Kamera ist, sondern ein homerischer Geschichtenerzähler. Für Emotionen gilt das Gleiche: Das Gehirn interpretiert die Welt aktiv, anhand von kontextabhängigen Top-down-Schlussfolgerungen. Wie James hervorgehoben hat, existieren Gefühle erst, wenn das Gehirn die Ursache für die physiologischen Körpersignale interpretiert und eine angemessene, kreative Reaktion konstruiert hat, die mit unseren Erwartungen und dem unmittelbaren Kontext übereinstimmt.
Ganz im Sinne von James behauptete Schachter, das vegetative Feedback, das eine Person angesichts eines emotional erregenden Reizes erlebe, weise zuverlässig darauf hin, dass das betreffende Ereignis emotional bedeutsam sei. Ganz im Sinne von Cannon jedoch behauptete er auch, dass dieses körperliche Feedback nicht immer genügend Informationen liefere, um dieses Ereignis genau zu identifizieren. Laut Schachter lenkt die vegetative Reaktion also unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass sich etwas Wichtiges ereignet. Das veranlasst uns, die Situation kognitiv zu analysieren und möglichst auf die Ursache für die vegetative Reaktion zu schließen. Dabei identifizieren wir bewusst das Gefühl, das die Reaktion begleitet.
Einen wichtigen Beitrag zu Schachters Theorie der Emotionen leistete Magda Arnold 1960 – sie führte den Begriff der Bewertung (appraisal) in die Debatte ein. Die Bewertung ist ein früher Schritt in der Reaktion auf einen emotional besetzten Reiz. Sie löst ein bewusstes Gefühl aus, indem sie die jeweiligen Ereignisse und Situationen subjektiv beurteilt, und führt zur unspezifischen Neigung, sich erstrebenswerten Reizen und Ereignissen anzunähern sowie nicht erstrebenswerte zu meiden. Der Bewertungsprozess läuft zwar unbewusst ab, doch anschließend werden wir uns des Resultats bewusst.
2005
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