Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
symmetrische Gesichter bevorzugen. Darüber hinaus liegt dieses Prinzip nicht nur der Partnerwahl bei Menschen und Menschenaffen zugrunde, sondern auch bei Vögeln und sogar Insekten. Doch warum hat es sich im gesamten Tierreich so lange gehalten?
Perrett vermutet, dass Symmetrie gute Gene anzeigt. Im Wachstumsverlauf können gesundheitliche Probleme und Belastungen durch die Umwelt zu asymmetrischen Gesichtsstrukturen führen. Der Grad der Symmetrie eines menschlichen Gesichts zeigt daher möglicherweise an, wie gut das Genom dieser Person in schwierigen Lebenslagen Krankheiten trotzen und eine normale Entwicklung gewährleisten kann. Zudem ist die Anlage zu einer stabilen Entwicklung weitgehend erblich. Demnach empfinden wir Symmetrie, zumindest in Gesichtern, nicht nur aus strikt formalen Gründen als schön, sondern auch, weil sie etwas über die Gesundheit potenzieller Sexualpartner und ihrer möglichen Nachkommen aussagt.
Inwiefern lassen sich diese Kriterien für die Schönheit von Gesichtern auf die Porträtmalerei der Wiener Vertreter der Moderne anwenden? Die Jugendstilgesichter in Gustav Klimts Gemälden zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Symmetrie aus. Das lässt sich nachprüfen, wenn man die rechte Hälfte eines Gesichts durch das digital erzeugte Spiegelbild der linken Gesichtshälfte ersetzt oder umgekehrt (Abb. 23-2). Die drei Gesichter sind im Grunde nicht voneinander zu unterscheiden, und falls es Unterschiede gibt, sind sie meist durch eine ungleichmäßige Beleuchtung zu erklären. Dieses Ausmaß an Symmetrie findet man in der Natur extrem selten. Es repräsentiert idealisierte Proportionen, die unterschwellig Gesundheit und genetische Qualität vermitteln, und trägt sicherlich zu der traumhaften Schönheit von Klimts Gesichtern bei. Zweifellos hat der Künstler intuitiv erfasst, dass es sich hierbei um eines der wirkungsvollsten Merkmale für die Schönheit von Gesichtern handelt, und es auf elegante Weise in sein Werk integriert.
DIE GESICHTSSYMMETRIE SPIELT auch in den Gemälden von Oskar Kokoschka und Egon Schiele eine Rolle, aber im Gegensatz zu Klimt haben diese Maler Gesichter und Emotionen übertrieben dargestellt (Abb. 23-2). Tatsächlich waren diese Übertreibungen ein wesentliches Merkmal des sich entwickelnden Expressionismus. Während Klimts Porträts stillschweigend signalisieren, dass sich die betreffende Person von ihrer Psyche und Entwicklung her in Einklang mit ihrer Umwelt befindet, demonstrieren Kokoschkas Porträts das Gegenteil. Selbst seine wohlwollendsten und am wenigsten expressionistischen Porträts – wie das von Ernst Reinhold (Abb. 23-2) – weisen Asymmetrien auf. Diese Unregelmäßigkeiten verstören – nicht zuletzt wegen der durch sie vermittelten inneren Konflikte. Indem die Expressionisten diese unbewussten Signale für seelische Bedrängnis aufriefen, waren sie in der Lage, Geschichten und Emotionen auf eine kunstvolle, subtile und entschieden moderne Art und Weise bildlich auszudrücken.
Abb. 23-2.
Von oben nach unten:
Gustav Klimt, Hygieia (1900–1907), Detail aus Medizin ; Öl auf Leinwand.
Egon Schiele, Selbstbildnis, Kopf (1910) (Detail);
Wasserfarben, Gouache, Kohle und Bleistift auf Papier.
Oskar Kokoschka, Der Trancespieler (Schauspieler Ernst Reinhold) (1909) (Detail);
Öl auf Leinwand.
Oskar Kokoschka, Ludwig Ritter von Janikowski (1909) (Detail); Öl auf Leinwand.
Bilder wurden modifiziert.
Neben der Symmetrie gelten weitere Merkmale eines weiblichen Gesichts weltweit als attraktiv: geschwungene Augenbrauen, große Augen, kleine Nase, volle Lippen, schmales Gesicht und kleines Kinn. Es überrascht nicht weiter, dass diese Gesichtsmerkmale in Klimts Werk allgegenwärtig, bei Kokoschka jedoch längst nicht so häufig anzutreffen sind. Obwohl die von Kokoschka dargestellten Frauen einige dieser Merkmale – zum Beispiel große Augen und volle Lippen – aufweisen, sind die äußeren Gesichtskonturen oft übermäßig breit und asymmetrisch. Gerade weil diese Porträts zugleich anziehend und abstoßend wirken, üben sie vielleicht eine solch beunruhigende Faszination aus. Zwischen Beklemmung und Schönheit taumelnd, ziehen sie uns in ihren Bann.
Die Attraktivität männlicher Züge beruht auf anderen Kriterien. In den 1960er-Jahren fanden Gerald Guthrie und Morton Wiener heraus, dass man kantige Schultern, Ellbogen und Knie (im Gegensatz zu runden) mit Männlichkeit und gleichzeitig mit Aggressivität assoziiert. Außerdem wirkt es bei
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