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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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die Bahn auf ein Nebengleis lenkt, auf dem nur ein einziger Mensch getötet würde. Die meisten Personen, denen man diese Frage stellt, entscheiden, dass es besser ist, fünf Menschen zu retten als einen, und würden die Weiche umlegen. In einer anderen Version des Dilemmas drohen wieder fünf Menschen von einer führerlosen Straßenbahn überrollt zu werden. Diesmal kann man sie nur retten, indem man einen anderen Menschen, der auf einer Brücke über dem Bahngleis steht, auf die Schienen stößt, um die Bahn zu stoppen. Beide Handlungen haben die gleichen Folgen, doch in ihrer Ausführung unterscheiden sie sich erheblich. Während es die meisten Leute für moralisch vertretbar halten, die Straßenbahn umzulenken und dadurch fünf Menschen zu retten, halten sie es für nicht vertretbar, einen Menschen von der Brücke zu stürzen, um fünf andere Menschenleben zu retten – denn für die meisten weckt das Umlegen einer Weiche weniger Emotionen, als eine Person aktiv vor eine Bahn zu stoßen.
    Aufgrund dieses Ergebnisses hat Greene für die moralische Entscheidungsfindung eine »Duale-Prozess-Theorie« entwickelt. Utilitaristische , also nutzenorientierte, moralische Urteile, die das »allgemeine Wohl« über die Rechte des Einzelnen stellen, beruhen auf eher kontrollierten, emotionslosen, kognitiven Prozessen, welche großenteils eine ernsthafte ethische Argumentation erfordern. Intuitive moralische Urteile, die die Rechte und Pflichten des Einzelnen in den Vordergrund stellen (etwa bei der Frage, ob man jemanden von einer Brücke werfen soll), beruhen auf emotionalen Reaktionen und stützen sich eher auf egozentrische moralische Überlegungen als auf objektivere Argumente. Diese beiden Formen moralischer Urteile nutzen jeweils unterschiedliche neuronale Systeme.

    Abb. 22-5

    Abb. 22-6
    BEI MORALISCHEN ERWÄGUNGEN ist der präfrontale Cortex ein zentrales ausführendes Organ. Er macht fast ein Drittel der gesamten Großhirnrinde aus (Abb. 22-5 und 22-6) und ist, wie wir gesehen haben, für ein gut funktionierendes geistiges Leben unverzichtbar. Im Jahre 1948 entdeckten Jerzy Rose und Clinton Woolsey, die gemeinsam an der Johns Hopkins University arbeiteten, die Verknüpfung verschiedener Teile des präfrontalen Cortex mit bestimmten Neuronengruppen im Thalamus und mit allen sensorischen Schaltkreisen – zum Fühlen, Riechen, Schmecken, Sehen und Hören. Bei ihren Untersuchungen fanden sie heraus, dass sich der präfrontale Cortex nach den jeweiligen spezifischen Verknüpfungsmustern in vier große Bereiche aufteilen lässt. So gibt es die beiden ventralen Regionen (die ventrolaterale, oder orbitofrontale, und die ventromediale Region), eine dorsolaterale und eine mediale Region. Jede dieser Regionen empfängt Informationen aus einem anderen Areal des Thalamus, und jede verfügt über eigene Verbindungen zu Zielbereichen im Gehirn (Abb. 22-7). Alle vier Regionen des präfrontalen Cortex sind mit der Amygdala verknüpft.

    Abb. 22-7.
Vernetzung der Amygdala mit anderen an Emotionen beteiligten Strukturen: Striatum, cingulärer Cortex und präfrontaler Cortex.
    Die vier Regionen des präfrontalen Cortex besitzen einander überlappende und separate Funktionen. Die ventrolaterale , oder orbitofrontale , Region verfügt über die stärksten Verbindungen zur Amygdala und ist wichtig für die Beurteilung von Schönheit, Freude sowie anderen positiven Werten eines Reizes. Diese Region ist zuständig für das Wahrnehmen und das Erzeugen von Gesichtsausdrücken; dabei verarbeitet sie auch Informationen aus den Gesichts-Flecken im Temporallappen. Personen mit Schädigungen in dieser Hirnregion können positive Gefühle empfinden, aber sie nicht mit einem Lächeln zum Ausdruck bringen.
    Die ventromediale Region des präfrontalen Cortex ist wesentlich für zielgerichtetes Verhalten. Sie koordiniert positive emotionale Erfahrungen mit Sozialverhalten und moralischen Urteilen. Zu diesem Zweck hemmt sie die Amygdala, deren Reaktion auf emotionale Reize unter Umständen der Kognition zuwiderläuft. Personen mit Schädigungen der ventromedialen Region sind in ihren kognitiven Funktionen unbeeinträchtigt, neigen aber zu impulsiven Entscheidungen. Außerdem ist ihr moralisches Urteilsvermögen gestört – sie hätten keine großen Probleme damit, jemanden von einer Brücke zu stoßen.
    Die dorsolaterale Region steuert das Arbeitsgedächtnis; darüber hinaus besitzt sie ausführende und kognitive Funktionen, wie das Planen und

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