Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
Vom Netzwerk:
darauf zu verstehen. Gombrich hörte einmal, wie Kokoschka seine emotionale Reaktion auf eine Person beschrieb, deren Porträt er gerade malte. Als er »von dem Modell erzählte, dessen Gesicht er so schwer zu enträtseln fand, zog er automatisch eine Grimasse von undurchdringlicher Starrheit«. 177 Bei Kokoschka, so sagt Gombrich, »nahm das Verstehen der Physiognomie einer anderen Person seinen Weg deutlich über die eigenen Muskelerlebnisse.« 178
    In Kokoschkas Porträts von Ernst Reinhold und Rudolf Blümner, die wir in Kapitel 9 besprochen haben, verfremdet der Künstler die Oberfläche des Gesichts und stellt die Hände in ihren Details übertrieben dar, um die zugrunde liegenden geistigen Zustände abzubilden, die er einfühlsam erfasst hat. Wenn wir diese ausdrucksstarken Porträts betrachten, imitieren wir automatisch subtile Bewegungen der Gesichter; dies verdeutlichen auch die Experimente über »unbewusste Nachahmung«, die Ulf Dimberg, Psychologieprofessor an der Universität Uppsala in Schweden durchgeführt hat. Dimberg entdeckte Folgendes: Wenn man einer Person einen Gesichtsausdruck mit einer bestimmten Emotion präsentiert, und sei es auch nur ganz kurz, löst dies kleine Kontraktionen in den Gesichtsmuskeln der Person aus, die den soeben wahrgenommenen Ausdruck simulieren. Darüber hinaus haben sozialpsychologische Studien gezeigt, dass unbewusste Nachahmung häufig ein Gefühl des Einvernehmens und vielleicht sogar Sympathie gegenüber der imitierten Person hervorruft.
    Diese Art der Nachahmung kommt möglicherweise auch ins Spiel, wenn wir Kunstwerke betrachten, und damit stellt sich die Frage: Wie funktioniert sie? Interpretieren wir zuerst die Gesichtsausdrücke lebender oder porträtierter Personen und beeinflusst diese Deutung dann unsere eigene Mimik? Oder imitieren wir automatisch die Gesichtsausdrücke anderer, um sie zu verstehen?
    Chris Frith gibt ein besonders simples Beispiel für den Nachahmungsprozess:
    Es gibt eine einfache Möglichkeit, sich glücklicher zu fühlen, auch wenn man nicht in ein lächelndes Gesicht sieht. Nehmen Sie einen Stift zwischen die Zähne (wobei Sie die Lippen zurückziehen). Das zwingt Ihr Gesicht zu einem Lächeln, und Sie fühlen sich besser. Wenn Sie sich gern schlechter fühlen möchten, halten Sie den Stift zwischen Ihren Lippen. 179
    Sozialpsychologische Untersuchungen lassen vermuten, dass wir uns nicht nur mit den Gesichtsausdrücken anderer Menschen identifizieren und sie übernehmen, sondern auch ihre Körperhaltung, Gesten und Handbewegungen nachahmen. Zudem neigen wir als Mitglied einer sozialen Gruppe dazu, nicht jeden gleichermaßen nachzuahmen, sondern bevorzugt die zentrale, wichtigste Person der Gruppe. Diese unbewussten Prozesse treten bemerkenswert regelmäßig auf und dienen dazu, soziale Interaktionen zu koordinieren und zu unterstützen. Wie Riegl hervorgehoben hat, waren holländische Maler die Ersten, die diese Mechanismen mit großer Kunstfertigkeit nutzten und den Betrachter auf diese Weise in das Gemälde einbezogen.
    Gesichtsausdrücke und Körperbewegungen einer Person offenbaren nicht nur, wie sie mit einer Emotion umgeht. Sie können auch die Haltung der Person gegenüber anderen Menschen verraten. Viele unserer äußerlich sichtbaren Gefühlsbekundungen enthüllen unsere innere Befindlichkeit auf eine Art und Weise, die von den Personen, mit denen wir interagieren, entschlüsselt werden soll. Wir lächeln, um zu signalisieren, dass wir uns mit einer Kollegin oder einem Familienmitglied über ein Erfolgserlebnis freuen. Wir heben die Augenbrauen, um zu signalisieren, dass wir genauso überrascht sind wie jemand, der uns das schwer nachzuvollziehende Verhalten einer dritten Person schildert.
    Dann gelang Frith eine bemerkenswerte Entdeckung: Im Gehirn werden ein und dieselben Schaltkreise aktiv, wenn wir den Ausdruck von Glück oder Furcht auf dem Gesicht eines anderen Menschen sehen und wenn wir selbst Glück oder Furcht empfinden. Diese Erkenntnis liefert eine neuronale Erklärung – in Gestalt eines möglichen Mechanismus im Gehirn – für Charles Darwins und Paul Ekmans Entdeckung, dass wir auf den Gesichtsausdruck oder die Körperhaltung eines anderen empathisch reagieren. Unsere empathische Reaktion ist jedoch eine schwächere, persönlich gefärbte, bereinigte Reaktion; sie spiegelt die bei der anderen Person wahrgenommene Emotion nicht vollständig wider. Besonders schwach ist unsere empathische Reaktion auf

Weitere Kostenlose Bücher