Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Schmerz.
WEIL WIR IN BESONDEREM MASSE soziale Wesen sind, müssen wir das Verhalten anderer Menschen nicht nur lesen, sondern auch vorhersagen können, indem wir Modelle ihrer Gedankenwelten erstellen. Zur Erzeugung dieser Modelle benötigen wir eine Theory of Mind – ein intuitives Verständnis für den menschlichen Geist, damit wir uns vorstellen können, was andere Personen denken und empfinden, und in der Lage sind, mit ihnen mitzufühlen. Damit diese innere Simulation reibungslos funktioniert, braucht unser Gehirn darüber hinaus ein Modell von sich selbst – von seinen fixen Eigenschaften, seinen Persönlichkeitsmerkmalen und den Grenzen seiner Fähigkeiten und Möglichkeiten. Es ist denkbar, dass sich eine dieser beiden Modellierungskapazitäten zuerst entwickelt und die Voraussetzungen für die zweite geschaffen hat. Vielleicht haben sich die beiden, was oft geschieht, aber auch gemeinsam entwickelt und einander befördert, bis schließlich das reflektierende Selbst-Bewusstsein vorhanden war, das uns als Homo sapiens auszeichnet.
Die Gehirne der Betrachter wie auch der Künstler schaffen empathische Modelle von der Gedankenwelt anderer Personen. Wie wir in Kapitel 24 gesehen haben, nutzten Jan Vermeer, Diego Velázquez und Egon Schiele Spiegel, um in ihren Werken ihren eigenen Seelenzustand und den ihrer Modelle zu offenbaren. Wie aber versetzt unser Gehirn uns in die Lage, die Gedanken eines anderen Menschen zu lesen?
So wie unser Sehsystem aus figurativen Urformen Modelle der Wirklichkeit konstruiert, ist auch unser soziales Gehirn von Geburt an darauf vorbereitet, wie ein Psychologe Modelle der Motivationen, Sehnsüchte und Gedanken anderer Menschen zu erstellen. Um Zugang zur Gedankenwelt eines anderen erlangen zu können, sind eine Reihe weiterer Fähigkeiten, wie die zur Imitation und Empathie, gefragt. Zudem ist dieser Zugang eine entscheidende Voraussetzung für das Funktionieren in einer Gruppe – sei es in der Familie, unter Freunden, in der Schule oder am Arbeitsplatz.
Auch die Rezeption von Kunst hängt im Wesentlichen von unserer Fähigkeit ab, eine Theory of Mind zu entwickeln. Uta Frith, die auf diesem Forschungsgebiet Pionierarbeit geleistet hat, demonstriert die Bedeutung dieser Fähigkeit wunderbar mit ihrem Klassiker Autismus . Der Einband des Originals zeigt Der Falschspieler mit dem Karo-Ass (Abb. 25-1), ein Gemälde aus dem 17. Jahrhundert von Georges de la Tour, das Frith folgendermaßen beschreibt:
Wir sehen vier reich gekleidete Menschen: Eine Frau und zwei Männer sitzen an einem Tisch und spielen Karten. Hinter der Gruppe steht eine Dienerin, die ein Glas Wein hält. Diese dürren Tatsachen sagen nichts über das stumme Drama, das sich hier vollzieht – vor unseren Augen, doch nicht sichtbar in dem Sinne, wie die Figuren sichtbar sind.
Wir wissen, daß sich ein Drama abspielt, weil die Figuren beredt mit Händen und Augen sprechen.
Abb. 25-1.
Georges de la Tour, Der Falschspieler mit dem Karo-Ass (um 1635–1640).
Öl auf Leinwand.
Die Dame in der Mitte schaut mit einem merkwürdigen Blick zur Seite, ebenso die Magd. Beide sehen auf den Spieler zur linken Seite, der wiederum uns anblickt. Auch deutet die Dame mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand auf ihn. Der Spieler, auf den so durch Blick und Geste hingewiesen wird, hält mit seiner linken Hand zwei Asse hinter dem Rücken. In seiner rechten, auf den Tisch gestützten Hand hält er seine übrigen Karten. Der andere Spieler auf der rechten Seite schaut offensichtlich völlig vertieft in seine Karten.
Selbst mit diesen zusätzlichen Einzelheiten erfaßt die Beschreibung noch nicht, was in dieser Szene vorgeht. … Obwohl wir psychische Zustände nicht sehen können, können wir sie, geleitet durch die Intentionen des Malers, erschließen – mit Logik und Präzision, nicht durch willkürliche und vage Spekulation. Infolgedessen wissen wir, daß der Maler ein Mogeln beim Kartenspiel ins Bild gesetzt hat. Wieso können wir das mit solcher Sicherheit sagen? Unser Verständnis beruht auf einem starken, geistigen Werkzeug, das jeder normale Erwachsene besitzt und unterschiedlich geschickt benutzt. Dieses Werkzeug ist … eine »Theorie« der psychischen Welt oder kurz eine intuitive Psychologie ( theory of mind ). Diese »Theorie« ist keine wissenschaftliche Theorie; sie ist sehr viel pragmatischer. Sie befähigt uns, Beziehungen zwischen äußeren Tatbeständen und inneren, psychischen oder mentalen Zuständen
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