Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
dass wir ein Problem in einem neuen Licht betrachten, und zwar auf eine Weise, die wir bei bewusstem Nachdenken normalerweise nicht in Betracht ziehen würden. Entsprechend haben von John Geake zusammengefasste Untersuchungen über mathematisch begabte Kinder offenbart, dass das rechte parietale Areal sowie die Frontallappen in beiden Hirnhälften beteiligt sind, wenn es gilt, die Lösung mathematischer Probleme kreativ anzugehen.
Diese Ergebnisse sind vor allem deshalb interessant, weil man das Verkünden einer Reihe von Unterschieden zwischen »linkem Gehirn« und »rechtem Gehirn«, von Sprache abgesehen, lange Zeit für pseudowissenschaftlich hielt. So behauptete man in den 1980er-Jahren erstmals, die linke Hirnhälfte sei eher analytisch und logisch, die rechte hingegen eher ganzheitlich und intuitiv ausgerichtet. Zahlreiche Studien scheiterten bei dem Versuch, diese pauschale Behauptung zu bestätigen. Vielmehr deuteten sie im Wesentlichen darauf hin, dass für kognitive Aktivitäten, wie Musik, Mathematik und logische Schlussfolgerungen, beide Hirnhälften zuständig sind. Die von Robert Ornstein dargelegten Resultate einer Reihe systematischer Studien aus jüngerer Zeit legen jedoch nahe, dass zumindest bestimmte Arten von Einsichten insbesondere die rechte Hirnhälfte beanspruchen.
DIESE NEUEREN ERGEBNISSE STAMMTEN aus Untersuchungen über Personen mit unversehrten Gehirnen. Frühere Arbeiten der bedeutenden Neurologen Paul Broca und Carl Wernicke aus dem 19. Jahrhundert haben jedoch gezeigt, dass wir über die Biologie komplexer kognitiver Prozesse auch eine Menge lernen können, wenn wir die Folgen spezifischer Hirnschäden für das Verhalten untersuchen. Daher wissen wir seit Mitte des 19. Jahrhunderts, dass die linke und rechte Hirnhälfte zwar symmetrisch aussehen und beim Wahrnehmen, Denken und Handeln zusammenarbeiten, aber von ihren Funktionen her nicht symmetrisch sind. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass jede Hirnhälfte überwiegend für die Empfindungen und Bewegungen der jeweils entgegengesetzten Körperseite zuständig ist. Demzufolge ist der linke Motorcortex dafür verantwortlich, dass die meisten von uns Rechtshänder sind. Außerdem wird bei fast allen Rechtshändern das Verstehen und Erzeugen von gesprochener Sprache wie auch Gebärdensprache hauptsächlich von der linken Hirnhälfte gesteuert. Die rechte Hirnhälfte ist eher für die »musikalischen« Aspekte der Sprache, für die Intonation zuständig. Zudem ist die rechte der linken Hirnhälfte bei einer Reihe perzeptueller Funktionen überlegen, die keine Sprache erfordern, etwa bei visuell-räumlicher Informationsverarbeitung, dem Gedächtnis für abstrakte Muster, Nachahmen, Zeichnen und der Gesichtserkennung.
Aufgrund dieser Beobachtungen schrieb John Hughlings Jackson, der Begründer der britischen Neurologie, die verschiedenen Funktionsweisen der Hirnhälften Unterschieden in der kognitiven Spezialisierung zu. In Anlehnung an Wernickes und Brocas Entdeckungen schrieb er 1871, die linke Hirnhälfte sei auf analytische Organisation und daher auf die Struktur von Sprache spezialisiert, während die rechte Hirnhälfte auf die Verknüpfung von Reizen mit Reaktionen spezialisiert sei und somit auf die assoziative Verbindung von Ideen mit dem Ergebnis neuartiger Ideenkombinationen.
Im Rahmen seiner allgemeineren Theorie über die Funktionsweisen des Gehirns arbeitete Hughlings Jackson diese Sichtweise weiter aus. Seiner Auffassung nach hat das Gehirn im Laufe der Evolution allmählich immer komplexere Ebenen entwickelt. Jede höhere Ebene unterliegt Koordinationsregeln, die denen für die unteren Ebenen ähneln. Zudem erfolgt die Steuerung aller Ebenen über ein Gleichgewicht zwischen hemmender und erregender Aktivität, wie es auch Stephen Kuffler in der Netzhaut sowie David Hubel und Torsten Wiesel in der Großhirnrinde entdeckt haben. Laut Hughlings Jackson befinden sich die erregenden und hemmenden Kräfte zwischen den beiden Hirnhälften im Gleichgewicht, was dazu führt, dass nur ein gewisser Teil der potenziellen Hirnkapazität genutzt wird. Anderes Potenzial, darunter die Fähigkeit der rechten Hirnhälfte, kreativ zu handeln, wird aktiv unterdrückt. Die Schädigung einer Hirnhälfte bewirkt jedoch, dass sie die andere nicht mehr hemmen kann; das hat zur Folge, dass zuvor verborgene geistige Fähigkeiten in der intakten Hirnhälfte, einschließlich ihres kreativen Potenzials, nicht mehr unterdrückt werden.
Hughlings
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