Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
Vom Netzwerk:
Jackson formulierte diese Überlegungen, als er die musikalischen Fähigkeiten von Kindern untersuchte, die an erworbener Aphasie litten, einer Sprachstörung, bei der die linke Hirnhälfte in Mitleidenschaft gezogen ist. Er stellte fest, dass eine Schädigung der linken Hirnhälfte die Musikalität der Kinder, die von der rechten Hirnhälfte gesteuert wird, nicht beeinträchtigte – vielmehr verstärkte die Schädigung die musikalischen Fähigkeiten noch. Für Hughlings Jackson war dies ein Beispiel für die Freisetzung einer normalerweise unterdrückten Funktion des rechten Gehirns (Musikalität) infolge der Schädigung der linken Hirnhälfte.
    Hughlings Jackson konnte das Gehirn im Grunde nur indirekt untersuchen, weil er nichts anderes als einen Reflexhammer, eine Sicherheitsnadel, einen Wattebausch und eine außergewöhnliche klinische Beobachtungsgabe zur Verfügung hatte. Dennoch erwiesen sich seine Erkenntnisse über das – kreative – Vermögen der rechten Hirnhälfte, neue Verknüpfungen zu bilden, und die Fähigkeit der linken Hirnhälfte, dieses kreative Potenzial zu hemmen, als weitsichtig, wenngleich vermutlich überzogen. Zunächst einmal zeigten seine Ergebnisse: Verletzungen können offenbaren, welche Hirnareale die Kreativität, auf positive oder negative Weise, beeinflussen. Zudem wurde deutlich, dass das Medium der linken Hirnhälfte im Allgemeinen die Logik ist, die sich detailorientiert mit Fakten, Regeln und Sprache beschäftigt. Dagegen greift die rechte Hirnhälfte meist auf Fantasie und Vorstellungskraft zurück, hat das große Ganze im Blick und setzt sich mit Symbolen, Bildern, Risikobereitschaft und Impulsivität auseinander.
    Hundert Jahre, nachdem Hughlings Jackson das Fundament für die moderne Neurologie gelegt hatte, brachte Elkhonon Goldberg, der die kognitiven Funktionen des Gehirns untersucht, erneut die Idee ins Spiel, dass die linke Hirnhälfte auf die Verarbeitung routinemäßiger oder bekannter Informationen spezialisiert ist, die rechte hingegen auf die Verarbeitung neuartiger Informationen. Alex Martin und seine Mitarbeiter an den National Institutes of Health bestätigen Goldbergs Theorie. Mithilfe von PET-Aufnahmen des Gehirns haben sie herausgefunden: Wird ein Reiz, wie ein Objekt oder ein Wort, wiederholt präsentiert, so bleibt die linke Hirnhälfte beständig aktiv. Dagegen wird die rechte Hirnhälfte nur dann aktiv, wenn man ihr einen neuartigen Reiz oder eine neuartige Aufgabe präsentiert. Die Aktivierung der rechten Hirnhälfte schwächt sich ab, wenn man sie sehr oft mit einem Reiz oder einer Aufgabe konfrontiert; die linke Hirnhälfte hingegen verarbeitet den Reiz dann weiterhin.
    Goldbergs frühere Arbeiten hatten nahegelegt, dass die rechte Hirnhälfte eine besondere Rolle beim Lösen von Problemen spielt, die eine gewisse Findigkeit verlangen. Das liegt vermutlich daran, dass die rechte Hirnhälfte fortwährend damit beschäftigt ist, lose oder entfernte Assoziationen zwischen den Aspekten eines Problems zu verarbeiten. Bei einer Studie, in der die Versuchspersonen ein Problem mithilfe kreativer Einsicht lösten, zeigte die rechte Hirnhälfte sogar noch in der Ruhephase eine gewisse Aktivität.
    Laut Earl Miller vom MIT und Jonathan Cohen von der Princeton University ist der präfrontale Cortex, den man gemeinhin mit abstrakten Folgerungen und der Top-down-Regulierung von Emotionen in Verbindung bringt, auch für die Ausarbeitung kreativer Einsichten verantwortlich; er soll dafür auf sekundärprozesshaftes, logisches Denken zurückgreifen. Sobald eine Person eine kreative Lösung gefunden hat, wird der präfrontale Cortex aktiv; dabei konzentriert er sich nicht nur auf die betreffende Aufgabe, sondern versucht auch festzulegen, welche anderen Hirnareale zur Lösung des Problems heranzuziehen sind. Wenn wir also, wie der Wissenschaftsautor Jonah Lehrer darlegt, ein Sprachrätsel lösen wollen, aktiviert der präfrontale Cortex – über Top-down-Verarbeitung – selektiv die spezifischen Hirnareale, die mit Sprachverarbeitung zu tun haben. Falls er sich dazu entschließt, zum Teil auch die rechte Hirnhälfte einzubeziehen, werden wir möglicherweise mit einer plötzlichen Eingebung belohnt. Falls er seine Rekrutierung auf die linke Hirnhälfte beschränkt, gelangen wir vermutlich Schrittchen für Schrittchen zur Lösung – oder gar nicht.
    Der präfrontale Cortex stellt all diese Überlegungen an, ohne dass uns bewusst wird, was wir planen. Das lässt

Weitere Kostenlose Bücher