Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
vermuten, dass er eine wichtige Rolle bei kognitiven unbewussten Prozessen spielt. Diese Entdeckung hat zu der Idee geführt, dass das Lösen eines Problems, ob kreativ oder methodisch, nicht bei Null beginnt, wenn die betreffende Person das Problem angeht. Oft hat sie sich schon vorher mit Aspekten des Problems auseinandergesetzt. Demzufolge gibt es beim Problemlösen, wie auch in der Entscheidungsfindung, einen bereits bestehenden unbewussten Hirnzustand, der die Person in die Lage versetzt, sich entweder für eine kreative oder eine methodische Strategie zu entscheiden.
WIR KÖNNEN NUN DIE FRAGE STELLEN, die Hughlings Jackson ursprünglich aufgeworfen hatte: Was erfahren wir möglicherweise über Entscheidungsfindung und verwandte Aspekte der Kreativität, wenn wir Menschen untersuchen, die aufgrund von Variationen oder Defiziten »normaler« Hirnfunktionen bestimmte Talente entwickeln? Studien mit bildgebenden Verfahren zeigen: Bei der visuellen Wahrnehmung und dem Erinnern an Bilder ist der präfrontale Cortex aktiv, und Kreativität beansprucht meist beide Seiten des präfrontalen Cortex. Wenn eine Person jedoch ihre Fertigkeiten als bildender Künstler weiterentwickelt, verändert sich die Konfiguration der Verbindungen zwischen rechter und linker Seite – die Aktivität im rechten präfrontalen Cortex scheint das Hemmungspotenzial der linken Seite außer Kraft zu setzen. Demzufolge kann die Interaktion zwischen rechtem und linkem präfrontalem Cortex Originalität und Kreativität fördern oder hemmen.
Diese Ergebnisse könnten erklären, warum manche Menschen mit frontotemporaler Demenz plötzlich eine künstlerische Begabung zeigen. Der Neurologe Bruce Miller von der University of California in San Francisco hat eine Gruppe von Patienten mit dieser Demenz untersucht, bei denen die Schädigungen weitgehend auf den linken Frontal- und Temporallappen beschränkt waren. Man geht davon aus, dass solche Schädigungen die Fähigkeit der linken Hirnhälfte beeinträchtigen, die Aktivität im rechten Frontal- und Temporallappen zu hemmen.
Weil bei dieser Patientengruppe die linke Hirnhälfte stärker in Mitleidenschaft gezogen ist als die rechte, liegen ihre Talente, wie auch bei den meisten Autisten mit Inselbegabungen und Legasthenikern, normalerweise nicht im sprachlichen, sondern im visuellen Bereich. Dennoch scheint das Release- oder Freisetzungsphänomen – der von Schädigungen der linken Hirnhälfte freigesetzte Kreativitätsschub – nicht universell zu sein. Anscheind tritt es vielmehr bei Personen auf, bei denen die Kreativität bereits angelegt ist.
Einige der Patienten behielten das Malen und Fotografieren selbst noch bei fortschreitender Erkrankung bei. Zu ihnen gehörte Jancy Chang, eine Kunstlehrerin, die seit ihrer Kindheit gemalt hatte. Als sich ihre frontotemporale Demenz verschlimmerte, musste sie ihre Lehrtätigkeit aufgeben. Während Chang ihre sozialen und sprachlichen Fähigkeiten nach und nach einbüßte, was auf eine fortschreitende Beeinträchtigung ihres linken frontalen und temporalen Cortex hinwies, wurde ihre Kunst freier und kühner, wie Miller feststellte. Statt sich in ihren Werken um Realismus zu bemühen, wie sie es ihr Leben lang getan hatte, unterwarf sie sich nun weniger Zwängen, arbeitete mit künstlichen Farben, extremen anatomischen Verzerrungen sowie übertriebenen Gesichtsausdrücken und Körperhaltungen.
Die meisten Patienten mit linker frontotemporaler Demenz, die künstlerisches Talent offenbaren, erstellen jedoch, im Gegensatz zu Chang, Gemälde, Fotografien und Skulpturen, die sich um realistische Darstellungen ohne abstrakte oder symbolische Komponenten bemühen. Die Maler unter ihnen scheinen sich an Bilder aus früheren Tagen, oft aus ihrer Jugend, zu erinnern, und rekonstruieren diese dann mit ihrem inneren Auge, ohne den Rückgriff auf Sprache. Außerdem offenbaren die Künstler ein wachsendes Interesse an den feinen Nuancen von Gesichtern, Gegenständen und Formen. Und schließlich beschäftigen sie sich intensiv, fast schon zwanghaft mit ihrer Kunst und sind bereit, ein Werk so oft zu überarbeiten, bis es perfekt ist. Eine 51-jährige Hausfrau begann Flüsse und ländliche Szenen zu malen, an die sie sich aus ihrer Kinderzeit erinnerte. Ein 53-jähriger Mann, der sich nie für Kunst interessiert hatte, malte Kirchen, die er als Kind gesehen hatte. Ein 56-jähriger Geschäftsmann entwickelte eine solche Leidenschaft für das Malen, dass sie ihm mehrere
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