Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Preise einbrachte. Man glaubt, dass in diesen Fällen die verbliebenen neuronalen Verarbeitungsprozesse im rechten Frontallappen, die nun nicht länger durch die linke Hirnhälfte gehemmt werden, visuelle Elemente zu zusammenhängenden und sinnvollen Szenen anordnen.
Weitere Erkenntnisse haben Untersuchungen über Künstler erbracht, die einen Schlaganfall in der linken Hirnhälfte erlitten hatten. Dies beeinträchtigt das Sprachvermögen und hebt vermutlich die Hemmung der rechten Hirnhälfte auf. Den betreffenden Künstlern blieb ihr technisches Können nach dem Sprachverlust nicht nur erhalten – in einigen Fällen verbesserte es sich sogar. Der Kognitionspsychologe Howard Gardner gibt einen Überblick über diese Literatur und zitiert einen Maler, dessen Sprachvermögen nach einem Schlaganfall beeinträchtigt war: »In mir sind zwei Männer … den einen drängt die Realität zum Malen, der andere, der Narr, bekommt keine Wörter mehr heraus.« 206
Der Psychologe Narinder Kapur hat für diesen unerwarteten Fortschritt im Verhalten nach einer Hirnschädigung den Begriff paradoxe funktionelle Fazilitation geprägt. Er vermutet, wie Hughlings Jackson damals und Oliver Sacks in jüngerer Zeit, dass im gesunden Gehirn hemmende und erregende Mechanismen in komplexer Harmonie zusammenwirken. Der Wegfall hemmender Aktivität in einer Hirnhälfte infolge einer Verletzung kann zur Verstärkung spezifischer Funktionen in der anderen Hirnhälfte führen.
In Übereinstimmung mit der Hypothese, dass Kreativität auf der Aufhebung einer Hemmung beruhen kann, haben Untersuchungen erbracht, dass eine künstlerische Begabung im Allgemeinen dann zum Ausdruck kommen kann, wenn das intensive Bedürfnis nach neuen Reizen (Novelty seeking) weniger stark gehemmt wird. Typisch für Novelty seeking ist beispielsweise die Fähigkeit, unkonventionell zu denken, in ungeklärten Situationen verschiedene Lösungswege auszuprobieren und für neue Erfahrungen offen zu sein. Die Frontallappen sind Teil eines Netzwerks, das für das Aufspüren neuartiger Reize zuständig ist, und dies ist eine grundlegende Voraussetzung für Kreativität.
WIE MANIFESTIERT SICH KREATIVITÄT im Gehirn von Menschen, deren linke Hirnhälfte nicht geschädigt ist? Bisher hat man Personen mit nachweislicher Kreativität, wie große Künstler, Autoren oder Wissenschaftler, noch nicht mit bildgebenden Verfahren untersucht. Dank der produktiven Zusammenarbeit von Mark Jung-Beeman an der Northwestern University und John Kounios von der Drexel University hat es jedoch bedeutende Fortschritte in der Erforschung des Aha-Erlebnisses bei gesunden Personen gegeben. Jung-Beeman und Kounios hatten unabhängig voneinander kognitionspsychologische Forschungen über kreative Erkenntnisse betrieben, bevor sie gemeinsam neuroanatomische und funktionelle Studien über Einsicht beim Problemlösen ( insight problem solving ) durchführten – das heißt über das plötzliche Erkennen einer neuartigen Lösung für ein Problem.
DIE ERFORSCHUNG ALLMÄHLICHER UND plötzlicher Fortschritte beim Erlernen von Verhalten hat eine lange Geschichte. Im Jahre 1949 wies der renommierte kanadische Psychologe Donald O. Hebb darauf hin, dass eine Aufgabe genau den richtigen Schwierigkeitsgrad haben muss, um zu einer Einsicht zu führen. Sie darf nicht so einfach sein, dass eine Person sie ohne weiteres lösen kann, aber auch nicht so schwierig, dass die Aufgabe nur in wiederholten Versuchen durch mechanisches Abarbeiten zu lösen ist. Ein besonders interessantes Beispiel für eine solche Aufgabe liefert eine Untersuchung, die Nava Rubin, Ken Nakayama und Robert Shapley von der Harvard University und der New York University 1997 durchführten; sie betrifft die in Kapitel 18 vorgestellte optische Täuschung mit dem Dalmatiner.
Wie wir gesehen haben, nehmen Betrachter dieser Illusion ganz plötzlich die Konturen des Hundes wahr – eine Erfahrung, die dem Aha-Phänomen bei einer Eingebung ähnelt. Die Betrachter gehen ohne vermittelnde Lernebene direkt von einem »Keine-Ahnung«-Zustand in einen »Ich-hab’s«-Zustand über. Diese Experimente ließen Rubin und ihre Kollegen vermuten, dass es neben den spezifischen visuellen Merkmalen des Reizes (also des Hundes) auf einer höheren Ebene noch eine allgemeine Menge perzeptueller Erkenntnisse geben muss, die das abrupte Identifizieren visueller Konturen herbeiführt.
Genau dieser auf einer höheren Ebene angesiedelten Komponente der Aha-Wahrnehmung
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