Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
dass es verschiedene Arten unbewusster Prozesse gibt. Einige unbewusste Prozesse sind einer kohärenten Synthese zugänglich; andere – die Freud dem Es zugeschrieben hat – sind das Medium unkontrollierter instinktiver Triebe. Demzufolge müssen wir erst einmal neu bestimmen, was wir unter unbewussten geistigen Funktionen verstehen.
Wir haben gesehen, dass eine Komponente der unbewussten Informationsverarbeitung kognitive Aspekte besitzt und leichten Zugang zum Bewusstsein hat. Dies ist das kognitive Unbewusste – der kognitive Teil des Ich. Seine Prozesse stimmen mit der neueren psychoanalytischen Theorie überein, dass das Ich über eine autonome Sphäre verfügt, die relativ frei von instinktiven Trieben ist und sich an der Entscheidungsfindung beteiligen kann. Die Vorstellung eines kognitiven Unbewussten, die der Kognitionspsychologe John F. Kihlstrom von der University of California, Berkeley, erstmals 1987 einführte, wurde von Seymour Epstein und später von einer Reihe weiterer Kognitionspsychologen ausgearbeitet.
Das kognitive Unbewusste hat Merkmale mit zwei von Freud umrissenen unbewussten Komponenten des Ich gemeinsam: mit dem prozeduralen (impliziten) Unbewussten , das für unser unbewusstes Gedächtnis motorischer und perzeptueller Fertigkeiten zuständig ist, und dem vorbewussten Unbewussten , das sich an Organisation und Planung beteiligt. Wie die beiden von Freud skizzierten unbewussten Prozesse wird auch das von Kihlstrom beschriebene kognitive Unbewusste fortwährend durch Erfahrungen aktualisiert – in diesem Fall durch eine Vielzahl bewusster Überlegungen, die wir im Laufe unseres Lebens anstellen. Tatsächlich könnten wir, laut Dijksterhuis, ohne bewusste Top-down-Verarbeitung die kognitiven Fertigkeiten, die wir für Entscheidungen und kreative Handlungen benötigen, gar nicht vervollkommnen und immer wieder auf den neuesten Stand bringen. Überdies werde das kognitive Unbewusste unter bestimmten Umständen während eines Entscheidungs- oder Schöpfungsprozesses durch bewusste, kognitive Top-down-Vorgänge überwacht.
Es gibt zwei Gründe anzunehmen, dass das kognitive Unbewusste seinen Teil zur Kreativität beitragen kann. Erstens kann es mehr Operationen zur gleichen Zeit ausführen als die bewussten Prozesse. Zweitens hat das kognitive Unbewusste laut Kris möglicherweise besonders leichten Zugang zum dynamischen Unbewussten, wie Freud es nannte – zu unseren Konflikten, Sexualtrieben sowie verdrängten Gedanken und Handlungen –, und kann daher kreativen Gebrauch von diesen Prozessen machen.
Die in diesem Kapitel erörterten Studien über bewusstes Handeln, Entscheidungsfindung und Kreativität haben uns einen neuen Blick auf unbewusste Aktivitäten eröffnet, die noch viel reichhaltiger und vielfältiger sind, als Freud es sich vor einem Jahrhundert hätte ausmalen können. Und darüber hinaus ist festzuhalten: Da wir die Biologie bewusster und unbewusster Prozesse nun besser verstehen, gelingen uns vielleicht bereits in der nahen Zukunft weitere wichtige Fortschritte im Dialog zwischen Kunst und Hirnforschung – der, wie wir gesehen haben, als Dialog zwischen Psychoanalyse und Hirnforschung in Wien um 1900 seinen Anfang nahm.
205 Schopenhauer, A., Parerga und Paralipomena , Bd. 3, Stuttgart/Berlin 1851, S. 58f.
KAPITEL 30
HIRNSCHALTKREISE IM DIENSTE DER KREATIVITÄT
K önnen wir die neuronalen Schaltkreise genau bestimmen, die am Auftreten kreativer Eingebungen, jener Aha-Erlebnisse, beteiligt sind? Vorläufige Indizien aus einer Reihe von Quellen sprechen dafür, dass zwar alle Teile der Großhirnrinde zur Kreativität beitragen, bestimmte Aspekte der Kreativität jedoch vornehmlich in Assoziationsarealen der Hirnrinde lokalisiert sind. Es gibt faszinierende, wenn auch keineswegs zwingende Hinweise darauf, dass Kreativität die rechte Hemisphäre der Großhirnrinde beansprucht, und dort insbesondere den rechten vorderen oberen temporalen Gyrus und den rechten parietalen Cortex. Wenn Versuchspersonen sprachliche Probleme lösen, die kreative Einsichten verlangen, nimmt die Aktivität in dieser Region des rechten Temporallappens zu; darüber hinaus kommt es 0,3 Sekunden vor einer solchen Einsicht in derselben Region zu einer plötzlichen Zunahme hochfrequenter Aktivität. Dieses charakteristische Aktivitätsmuster im rechten Temporallappen lässt vermuten, dass dieser Hirnbereich Informationen unbewusst integrieren muss, um zu kreativen Lösungen zu gelangen. Das bewirkt,
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