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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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erschaffen.
    Einen Dialog zwischen Naturwissenschaft und Kunst in Gang zu setzen, ist jedoch nicht einfach und erfordert besondere Umstände. Wien um 1900 gelang der erste Schritt hierzu, weil die Stadt relativ klein war und – mit Universität, Kaffeehäusern und Salons – ein soziales Klima bot, in dem Wissenschaftler und Künstler leicht einen Gedankenaustausch pflegen konnten. Zudem profitierte dieser erste Dialog von der Entwicklung eines gemeinsamen Interesses, das sich auf unbewusste geistige Prozesse konzentrierte. Dieses zentrale Thema hatte seinen Ursprung, wie erwähnt, in der wissenschaftlichen Medizin, Psychologie und Psychoanalyse sowie in der Kunstgeschichte. Der Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft setzte sich in den 1930er-Jahren fort – mit den Beiträgen der Kognitionspsychologie und der gestaltpsychologischen Analyse visueller Wahrnehmung. Dieser kühne und erfolgreiche Vorstoß der 1930er-Jahre diente zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Impuls, die damals gewonnenen kognitionspsychologischen Einsichten mit den Erkenntnissen aus der biologischen Forschung über Wahrnehmung, Emotion, Empathie und Kreativität zu verknüpfen. So wurde der neue Dialog in die Wege geleitet, der nun im Gange ist.
    WIR WISSEN HEUTE, DASS UNS EXPRESSIONISTISCHE Kunst unter anderem deshalb so sehr bewegt, weil wir ein bemerkenswert umfangreiches soziales Gehirn entwickelt haben. Es umfasst ausgedehnte Repräsentationen von Gesichtern, Händen, Körpern und Körperbewegungen; demzufolge sind wir so veranlagt, dass wir sowohl unbewusst als auch bewusst auf übersteigerte Abbildungen dieser Körperteile und ihrer Bewegungen reagieren. Darüber hinaus sind wir dank dem Spiegelneuronensystem im Gehirn, dem Theory-of-Mind-System und biologischen Regulierern von Emotion und Empathie außerordentlich gut in der Lage, uns in das Denken und Fühlen anderer Menschen hineinzuversetzen.
    Die entscheidende kreative Leistung von Oskar Kokoschkas und Egon Schieles Expressionismus bestand darin, jene unbewussten geistigen Prozesse mit ihren Porträts anzuregen. Dem Phänomen, dass Gesichter, Hände und Körper Gefühle vermitteln und Empathie wecken können, begegneten sie mit intuitivem Verständnis und sorgfältigen Analysen. So gelang es ihnen, neue Formen dramatischer und moderner psychologischer Porträts zu schaffen. Die Vertreter der österreichischen Moderne beherrschten zudem eindeutig die Wahrnehmungsprinzipien, nach denen unsere Augen und unser Gehirn die Welt um uns herum konstruieren. Gustav Klimt erfasste intuitiv die große Bedeutung von imaginärer Linie, Kontur und Top-down-Verarbeitung und schuf so einige der subtilsten und sinnlichsten Werke in der Geschichte der modernen Kunst. Mit diesen neuartigen Einblicken in die unbewussten empathischen, emotionalen und perzeptuellen Mechanismen des Gehirns waren die Vertreter der österreichischen Moderne auf ihre Art mit Fug und Recht als kognitive Psychologen zu bezeichnen. Parallel zu Sigmund Freud verstanden sie in das Privattheater eines fremden Geistes vorzudringen, erfassten dessen Natur, Stimmungen und Emotionen und vermittelten diese Einblicke ihren Betrachtern.
    Bedeutsame Erkenntnisse über den menschlichen Geist verdanken wir Schriftstellern und Dichtern sowie Philosophen, Psychologen, Naturwissenschaftlern und Künstlern. Kreative Projekte jeglicher Art tragen seit jeher auf ihre spezifische Weise zu einem immer umfassenderen Verständnis des menschlichen Geistes bei. Wenn wir eins davon zugunsten eines anderen vernachlässigen, wird dieses Verständnis vermutlich lückenhaft bleiben. Schließlich bedurfte es eines Psychologen wie Freud zu erklären, was unbewusste Vorgänge sind , doch ohne das Einfühlungsvermögen von Künstlern wie Shakespeare und Beethoven vor ihm oder von seinen Zeitgenossen Klimt, Kokoschka und Schiele wüssten wir nicht, wie sich einige dieser unbewussten Vorgänge anfühlen .
    Die wissenschaftliche Analyse steht für den Schritt zu größerer Objektivität, zu einer genaueren Beschreibung des wirklichen Wesens der Dinge. In der bildenden Kunst geschieht dies, indem man die Sicht der Betrachter auf ein Objekt nicht anhand der subjektiven Eindrücke analysiert, die dieses Objekt in den Sinnen hinterlässt, sondern anhand der spezifischen Reaktionen des Gehirns auf das Objekt. Kunst versteht man am besten als Destillation purer Erfahrungen. Darum ist sie eine hervorragende und wünschenswerte Ergänzung und Bereicherung der Wissenschaft des

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