Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Physik mit der Chemie vereinen? Mit der Biologie? Kann die neue Wissenschaft des Geistes als vermittelndes Zentrum für einen Dialog mit den Geisteswissenschaften dienen?
Inwiefern die Vereinigung eines wissenschaftlichen Feldes andere positiv beeinflussen kann, zeigt uns die Interaktion zwischen Physik und Chemie sowie zwischen beiden und der Biologie. In den 1930er-Jahren begann Linus Pauling mit der Zusammenführung von Physik und Chemie, indem er mithilfe der Quantenmechanik die Struktur der chemischen Bindung erläuterte; er konnte zeigen, dass die physikalischen Prinzipien der Quantenmechanik erklären, wie sich Atome in chemischen Reaktionen verhalten. Teilweise angeregt durch Pauling, begann 1953 die Annäherung von Chemie und Biologie mit der Entdeckung der Molekularstruktur der DNA durch James Watson und Francis Crick. Ausgestattet mit dieser Struktur, vereinte die Molekularbiologie auf brillante Weise die zuvor getrennten Disziplinen der Biochemie, Genetik, Immunologie, Entwicklungsbiologie, Zellbiologie, Onkologie und, in neuerer Zeit, der molekularen Neurobiologie. Dies lässt hoffen, dass die Wissenschaft des Geistes irgendwann auch zu den großen Theorien gehören wird.
DEN VERSUCH, BIOLOGISCHES UND geisteswissenschaftliches Wissen so zu vereinen, dass sowohl Snows als auch Brockmans Ansatz umfassend und realistisch fortgesetzt wird, hat zuletzt der Evolutionsbiologe E. O. Wilson unternommen. Er glaubt fest daran, dass eine solche Einheit zu erreichen ist, wenn man auf »Konziliation« setzt, das heißt auf fortgesetzte Dialoge zwischen den Disziplinen, die die jeweiligen Erkenntnisse zusammenführen.
Laut Wilson gelangt man über einen Prozess von Konflikten und Lösungen zu neuem Wissen und wissenschaftlichem Fortschritt. Für jede Mutterdisziplin, etwa Psychologie, die Erforschung von Verhalten, gebe es ein grundlegenderes Gebiet, eine Gegendisziplin – in diesem Falle die Hirnforschung –, die die Präzision der Methoden und die Behauptungen der Mutterdisziplin infrage stellt. Typischerweise sei die Gegendisziplin jedoch zu eng gefasst, um die Rolle der Mutterdisziplin, sei es Psychologie, Ethik oder Jurisprudenz, zu übernehmen, und könne den dafür notwendigen einheitlicheren Rahmen oder das reichhaltigere Paradigma nicht bieten. Da die Mutterdisziplin breiter aufgestellt und inhaltlich tiefgreifender sei, lasse sie sich nicht vollständig auf die Gegendisziplin reduzieren, obwohl sie diese schließlich in sich aufnehme und von ihr profitiere. Dies geschieht gerade bei der Zusammenführung von Kognitionspsychologie, der Wissenschaft des Geistes, und Neurowissenschaft, der Wissenschaft des Gehirns, wodurch eine neue Wissenschaft des Geistes entsteht.
Hier entwickeln sich neue Beziehungen, wie man an Kunst und Hirnforschung sehen kann. Kunst und Kunstgeschichte sind die Mutterdisziplinen und Psychologie und Hirnforschung ihre Gegendisziplinen. Wie erörtert, wird unsere Wahrnehmung von Kunst und die Freude an ihr ganz und gar durch die Hirnaktivität vermittelt, und wir haben mit der Erkundung unterschiedlicher Vorgehensweisen begonnen, die darauf abzielen, unsere Auseinandersetzung mit Kunst durch Erkenntnisse aus der Gegendisziplin der Hirnforschung zu bereichern. Außerdem haben wir gesehen, wie sehr die Hirnforschung profitieren kann, wenn sie den Anteil der Betrachter zu erklären versucht.
Dennoch müssen wir die großen Visionen von Holton und Wilson nüchtern mit der historischen Realität abgleichen. Statt im Vertrauen auf den Fortschritt davon auszugehen, dass es mithilfe einer einheitlichen Sprache und einer Reihe von nützlichen Konzepten unweigerlich zur Verknüpfung zentraler Ideen aus den Geistes- und Naturwissenschaften kommen wird, sollten wir die verlockende Vorstellung der Einheit des Wissens als den Versuch behandeln, zwischen enger begrenzten Wissensgebieten eine Diskussion in Gang zu bringen. Was die Kunst betrifft, könnte ein solcher Gedankenaustausch das moderne Pendant zu Berta Zuckerkandls Salon sein: Künstler, Kunsthistoriker, Psychologen und Hirnforscher reden miteinander – nun jedoch im Rahmen neuer akademischer, interdisziplinärer Zentren an Universitäten. Ganz so wie sich die moderne Wissenschaft des Geistes aus Diskussionen zwischen Kognitionspsychologen und Hirnforschern entwickelt hat, können heutzutage Forscher, die sich mit der Wissenschaft des Geistes beschäftigen, in einen Gedankenaustausch mit Künstlern und Kunsthistorikern eintreten.
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