Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
oder in der Phase der Reifung die Gedanken wandern lassen – mit anderen Worten: eine Regression herbeiführen. Dieses Argument gilt auch für die Rezeption von Kunst. Sich auf ein Kunstwerk wirklich einzulassen, erfordert, dass wir uns ganz darauf konzentrieren und alles andere ausschalten. Es gibt jedoch verschiedene Grade der Konzentration. Wenn wir uns stärker auf die Details eines Porträts als auf den Gesamteindruck konzentrieren, kann es vorkommen, dass uns der entscheidende Einblick in das Werk als Ganzes verwehrt bleibt. Daher ist es wichtig, wie auch Alfred Yarbus’ Untersuchungen über Augenbewegungen zeigen, dass wir mit unseren Augen die gesamte Szene abtasten und dabei sowohl die Details als auch das große Ganze in uns aufnehmen.
UNTERSCHEIDEN SICH KREATIVES DENKEN und nicht-kreatives, analytisches Denken grundlegend voneinander? Wenn ja, unterscheiden sich Menschen, die kreativ denken, die vermutlich leichten Zugang zu ihren unbewussten Gedanken haben, grundlegend von Menschen, die meist systematischer, methodischer denken?
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, führten Kounios und Jung-Beeman eine Studie durch, bei der sie die Teilnehmer in zwei Gruppen einteilten – je nachdem, ob diese das Problem nach eigener Einschätzung überwiegend mit kreativer Einsicht lösten oder eher methodisch herangingen. Alle Versuchspersonen sollten sich still entspannen, während man ihre Hirnaktivität mit EEGs aufzeichnete. Darauf präsentierte man ihnen durcheinandergewürfelte Buchstaben, die sie zu Wörtern anordnen sollten; diese Aufgabe ließ sich bewusst und methodisch lösen, indem man verschiedene Buchstabenkombinationen ausprobierte, oder mit einer plötzlichen Eingebung. Die beiden Gruppen offenbarten verblüffend unterschiedliche Hirnaktivitätsmuster, und zwar nicht nur in der Phase des Problemlösens, sondern auch während der Ruhephase zu Beginn des Experiments, also bevor sie wussten, welche Aufgabe sie erwartete. In beiden Phasen zeigten die kreativen Problemlöser eine starke Aktivität in mehreren Regionen der rechten Hirnhälfte.
Entsprechend identifiziert Vilayanur Ramachandran in seinem Buch Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn den rechten Parietallappen als einen Teil des Hirnschaltkreises, der mit einem Gespür für künstlerische Proportionen assoziiert ist. Läsionen in dieser Region führen bei Erwachsenen zu einem Verlust des Kunstverständnisses.
Demnach gibt es nun einigen Grund für folgende Annahme: Das Gehirn teilt die Arbeit zwischen den beiden Hirnhälften so auf, dass es ihre jeweiligen Stärken nutzen kann. Obwohl also beide Hirnhälften an denselben Prozessen mitwirken – ob beim Wahrnehmen, Denken oder Handeln – und dies simultan und in Kooperation tun, scheinen sie auf unterschiedliche Weise zur Kreativität beizutragen, wobei die rechte Hirnhälfte den wichtigeren Part übernimmt. Bisher sind uns jedoch nur begrenzte Einblicke in einige wenige Komponenten der Kreativität gelungen – und dazu zählt die unbewusste Arbeit, die in ein Aha-Erlebnis mündet.
KAPITEL 32
SELBSTERKENNTNIS: DER NEUE DIALOG ZWISCHEN KUNST UND NATURWISSENSCHAFT
Ü ber dem Eingang zum Tempel des Apollon in Delphi war die Inschrift »Erkenne dich selbst« angebracht. Seit Sokrates und Platon erstmals über die Natur des menschlichen Geistes nachdachten, haben ernst zu nehmende Denker danach gestrebt, das Selbst und menschliches Verhalten zu ergründen. Für die vergangenen Generationen beschränkte sich diese Suche auf die geistigen und oftmals nicht empirischen Domänen der Philosophie und Psychologie. Heute jedoch bemühen sich Hirnforscher, abstrakte philosophische und psychologische Fragen über den menschlichen Geist in die empirische Sprache der Kognitionspsychologie und Hirnbiologie zu übersetzen.
Das Leitprinzip dieser Wissenschaftler lautet: Der menschliche Geist setzt sich aus einer Menge von Operationen zusammen, die das Gehirn ausführt – eine erstaunlich komplexe Rechenmaschine, die unsere Wahrnehmung der Außenwelt konstruiert, unsere Aufmerksamkeit bündelt und unsere Handlungen steuert. Diese neue Wissenschaft hat sich ausdrücklich zum Ziel gesetzt, uns mit ihren Erkenntnissen ein tieferes Verständnis von uns selbst zu bescheren. Gelingen soll dies über die Verknüpfung der Biologie des Geistes mit anderen Bereichen humanistischen Wissens; dazu gehört auch ein besseres Verständnis davon, wie wir auf Kunstwerke reagieren, und vielleicht sogar auch, wie wir sie
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