Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Geistes. Wie »Wien 1900« verdeutlicht, reichen beide Zugänge für sich genommen nicht aus, um die Dynamik menschlicher Erfahrung voll und ganz zu erfassen. Wir müssen einen dritten Weg der Erkenntnis beschreiten, der über eine Reihe von Brücken führt, um die Kluft zwischen Kunst und Naturwissenschaft zu überwinden.
DAMIT ERHEBT SICH DIE FRAGE: Wie ist diese Kluft zwischen Kunst und Naturwissenschaft überhaupt erst entstanden? Der britische Ideengeschichtler Isaiah Berlin, der seinerseits im 20. Jahrhundert die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften befürwortete, führte die modernen Ursprünge der Trennung auf den italienischen Historiker und politischen Philosophen Giovanni Battista Vico zurück. Dieser lebte in Neapel und wirkte zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Laut Vico gibt es nur wenig Überschneidungen zwischen dem Studium der naturwissenschaftlichen, reinen Wahrheiten und dem Studium menschlicher Belange. Während Mathematik und Physik auf einer spezifischen Logik beruhten, die sich zu Studium und Analyse der »äußeren Natur« eigne, erfordere das Studium des menschlichen Verhaltens eine ganz andere Art von Wissen, ein Wissen von innen, das er als unsere innere »zweite Natur« bezeichnete.
Trotz der erfolgreich geknüpften Verbindungen zwischen Kunst und Naturwissenschaft im Wien der Jahrhundertwende und erneut in den 1930er-Jahren war dieses separatistische Argument in den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vorherrschend. Der vom Physiker zum Romancier gewandelte Charles Percy Snow wies 1959 in seiner Rede Lecture »The Two Cultures« mit Nachdruck darauf hin. Snow beschrieb die Kluft des gegenseitigen Unverständnisses und der Feindseligkeit zwischen den Naturwissenschaftlern einerseits, die sich mit der Natur des Universums beschäftigen, und den Geisteswissenschaftlern andererseits, die sich mit der Natur menschlicher Erfahrungen auseinandersetzen.
In den Jahrzehnten nach Snows Vorlesung ist die Kluft zwischen den beiden Kulturen allmählich etwas schmaler geworden. Dazu haben verschiedene Dinge beigetragen. Das Erste war Snows Ergänzung zur zweiten Auflage seines Buches The Two Cultures: And a Second Look (dt. Die zwei Kulturen: Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz ), die 1963 erschien.Darin erörtert er die umfangreichen Reaktionen auf seine Vorlesung und spricht von der Möglichkeit einer dritten Kultur, die einen Dialog zwischen Natur- und Geisteswissenschaftlern ins Leben rufen könnte:
Doch wenn wir Glück haben, können wir einen hohen Prozentsatz unserer begabten Köpfe so ausbilden, daß ihnen die Vorstellungswelt der Geisteswissenschaften wie auch der Naturwissenschaften nicht fremd bleibt, daß sie darüber hinaus die angewandten Wissenschaften schätzen, und daß sie um die heilbaren Leiden der Mehrzahl ihrer Mitmenschen wie auch um jene Verantwortung wissen, der sich niemand entziehen kann, wenn er sie erst einmal erkannt hat. 222
30 Jahre später arbeitete John Brockman Snows Idee in seinem Aufsatz »The Third Culture: Beyond the Scientific Revolution« weiter aus. Wie Brockman unterstrich, sei die Kluft am wirkungsvollsten zu überbrücken, wenn man Naturwissenschaftler dazu ermuntere, für die Öffentlichkeit in einer Sprache zu schreiben, die gebildete Leser leicht verstehen könnten. Dieses Bemühen zeigt sich derzeit in Presse, Funk und Fernsehen, im Internet und in anderen Medien – solide Wissenschaft wird einem breiten Publikum von genau den Wissenschaftlern nahegebracht, die sie betreiben.
Ein alternativer und ehrgeiziger Ansatz zur Überbrückung der Kluft ist gekennzeichnet durch den Glauben an die Einheit der Natur, die der Historiker Gerald Holton von Harvard als »Ionischen Zauber« bezeichnet hat. Diese Überzeugung brachte erstmals Thales von Milet zum Ausdruck, der um 585 vor Christus wirkte und gemeinhin als erster Philosoph der griechischen Tradition gilt. Bei Betrachtungen über die blauen Wasser des Ionischen Meeres suchten Thales und seine Anhänger nach den Grundgesetzen der natürlichen Welt und entwickelten die Idee, die Welt bestünde aus einer unendlichen Anzahl von Zuständen einer einzigen Substanz – Wasser. Dass man bei dem Versuch, diese kühne Argumentation auf menschliches Verhalten auszudehnen, bald an Grenzen stößt, liegt auf der Hand. Berlin hat Thales’ Vereinigungsansatz den »Ionischen Trugschluss« genannt. 223
Wie erweitern wir nun die Suche nach einigen gemeinsamen Vorstellungen und sinnvollen
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