Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Biologe Stephen Jay Gould, der sich mit der Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften auseinandergesetzt hat, drückt es folgendermaßen aus:
Ich möchte, dass Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften die dicksten Freunde werden, dass sie ihre tiefe Verbundenheit erkennen und ihre Schicksalsgemeinschaft im Streben nach menschlichen Werten und Errungenschaften. Dennoch sollen sie ihre zwangsläufig verschiedenen Ziele und Argumentationen weiterhin getrennt halten, während sie ihre gemeinsamen Projekte verfolgen und voneinander lernen. Sie sollen zwei Musketiere sein – beide für einen und einer für beide – und nicht die klassifizierten Abstufungen einer einzigen, großartigen Einheit des Wissens. 225
Etwas ganz Entscheidendes hat dieses Buch zu verdeutlichen versucht: Dialoge sind am ehesten dann von Erfolg gekrönt, wenn die betreffenden Forschungsbereiche natürliche Verbündete sind, wie die Biologie des Geistes und die Wahrnehmung von Kunst, wenn die Ziele des Dialogs nicht zu hochgesteckt sind und alle beteiligten Disziplinen davon profitieren. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass in der nahen Zukunft eine vollständige Vereinigung der Biologie des Geistes und der Ästhetik erfolgen wird. Es ist jedoch sehr gut möglich, dass neu entdeckte Interaktionen zwischen Aspekten der Kunst und Aspekten der Wahrnehmungs- und Emotionsforschung auch in Zukunft beide Gebiete voranbringen und dass diese Interaktionen irgendwann in ihrer Gesamtheit Wirkung zeigen.
EIN ZENTRALES MERKMAL DER WIENER MODERNE war der bewusste Versuch, Wissen zu koordinieren und zu vereinen. Die Zusammenführung von Medizin, Psychologie und künstlerischen Studien, die in Wien um 1900 allesamt auf der Suche nach verborgenen Wahrheiten unter die Oberfläche von Körper und Geist vordrangen, hat uns wissenschaftliche und künstlerische Erkenntnisse beschert, die die Art und Weise, wie wir uns selbst wahrnehmen, für immer verändert haben. Sie hat unsere mächtigen Instinkte offenbart – unsere unbewussten erotischen und aggressiven Triebe, unsere Emotionen – und die Abwehrstrukturen aufgedeckt, die diese Triebe vor unseren Blicken verbergen. Wir erkennen den Traum von der Einheit des Wissens im Wiener Kreis der Philosophen, in den Ursprüngen der Psychoanalyse und in Imago , der von Freud gegründeten Zeitschrift, die die Kluft zwischen Psychoanalyse und Kunst überbrücken sollte.
In jüngerer Zeit haben wir die Entwicklung der Neuroästhetik erlebt; diese Disziplin geht zurück auf die Arbeiten von Ernst Kris und Ernst Gombrich, die die Kunst erstmalig modernen psychologischen Studien unterzogen haben. Die Neuroästhetik kombiniert die Biologie des Sehens mit der Psychologie und bindet beide in die Kunstforschung ein. Und die Disziplin der emotionalen Neuroästhetik geht noch weiter: Sie versucht, Kognitionspsychologie und die Biologie der Wahrnehmung, Emotion und Empathie mit der Kunstforschung zu kombinieren.
Die Erkenntnis, dass Sehen ein kreativer Prozess ist, hilft uns, den Anteil der Betrachter zu verstehen, und ist der Beginn eines produktiven Dialogs zwischen Hirnforschung und Kunst. Die Verheißung eines Fortschritts ermutigt uns, innezuhalten und zu fragen: Welcher Gewinn wäre von diesem Dialog zu erwarten? Wer würde davon profitieren?
Der mögliche Nutzen für die neue Wissenschaft des Geistes liegt auf der Hand. Letztlich hat sich diese neue Wissenschaft unter anderem zum Ziel gesetzt, zu verstehen, wie das Gehirn auf Kunstwerke reagiert, wie wir, die Betrachter, unbewusste und bewusste Wahrnehmung, Emotionen und Empathie verarbeiten. Wie aber könnten die Künstler von diesem Dialog profitieren? Von Anbeginn der modernen experimentellen Forschung im 15. und 16. Jahrhundert an waren Künstler, von Filippo Brunelleschi und Masaccio über Albrecht Dürer und Pieter Bruegel bis hin zu den zeitgenössischen Künstlern Richard Serra und Damien Hirst, an Naturwissenschaft interessiert. Ganz ähnlich wie Leonardo da Vinci sein neu erworbenes Wissen über die menschliche Anatomie nutzte, um die Gestalt des Menschen fesselnder und präziser abzubilden, werden vermutlich auch viele Einblicke in Hirnprozesse für Künstler unserer Zeit von Nutzen sein, indem sie die wichtigsten Merkmale emotionaler Reaktionen offenbaren.
Neue Erkenntnisse über die Biologie der Wahrnehmung sowie der emotionalen und empathischen Reaktionen werden, wie in der Vergangenheit, wahrscheinlich auch in Zukunft Künstler beeinflussen und neue
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