Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Darstellungsformen hervorbringen. Tatsächlich haben einige Künstler, die von den irrationalen Mechanismen des menschlichen Geistes fasziniert sind, dies bereits versucht. Zu ihnen gehört René Magritte; er und andere Surrealisten erschlossen über Introspektion, was in ihrem eigenen Geist vor sich ging. Introspektion ist zwar hilfreich und notwendig, doch häufig nicht dazu geeignet, detaillierte objektive und generelle Erkenntnisse über das Gehirn und seine Funktionsweisen zu liefern. Heute lässt sich die traditionelle Introspektion möglicherweise durch das Wissen über bestimmte Aspekte des menschlichen Geistes und deren Mechanismen ergänzen. Demzufolge sind Einblicke in die Neurobiologie der visuellen Wahrnehmung und emotionalen Reaktion nicht nur ein wichtiges Ziel der Biologie des Geistes; sie werden auch zu neuen Kunstformen und neuen Ausdrucksmöglichkeiten der Kreativität anregen.
REDUKTIONISTISCHE ANSÄTZE VON DER ART, wie Gombrich sie vertrat und die ich in diesem Buch umreiße, sind für die Wissenschaft von zentraler Bedeutung. Dennoch fürchten viele, dass eine reduktionistische Betrachtung menschlichen Denkens die Faszination, die geistige Vorgänge auf uns ausüben, vermindert oder sie trivialer erscheinen lässt. Höchstwahrscheinlich ist jedoch das Gegenteil der Fall. Zu wissen, dass das Herz eine muskuläre Pumpe ist, die das Blut durch den Körper transportiert, hat unsere Bewunderung für seine großartige Funktionsweise nicht im Geringsten geschmälert. Nichtsdestoweniger stand die Weltöffentlichkeit im Jahre 1628 dieser unromantischen, reduktionistischen Sichtweise dermaßen feindlich gegenüber, dass William Harvey, der derzeit erstmalig seine Experimente über Herz und Kreislauf beschrieb, um seine Unversehrtheit und seine Entdeckung fürchtete. Er schrieb:
Nun aber, da ich das besprechen werde, was über die Menge und die Fülle dieses hindurchwandernden Blutes … zu sagen erübrigt, so ist dies so neu und unerhört, daß ich nicht nur zufolge der Mißgunst gewisser Leute eine Unbill für mich fürchte, sondern besorge, ich mache mir die ganze Menschheit zum Feind: so mächtig ist bei allen Menschen die Gewohnheit bzw. eine einmal eingesogene und tief im Boden eingewurzelte, sozusagen zur zweiten Natur gewordene Lehre, und einen solchen Zwang übt irgend eine ehrwürdige Mutmaßung des Altertums! Sei dem wie immer, der Würfel ist einmal gefallen, und meine Hoffnung ruht auf der Wahrheitsliebe und auf der Lauterkeit der Gesinnung der Gelehrtenwelt. 226
Entsprechend werden durch Kenntnisse über die Biologie des Gehirns keineswegs der Reichtum oder die Komplexität des Denkens infrage gestellt. Vielmehr kann Reduktion unseren Blick weiten, wenn wir uns immer nur auf eine Komponente eines geistigen Prozesses konzentrieren. So sind wir nämlich in der Lage, nicht vorhergesehene Beziehungen zwischen biologischen und psychologischen Phänomenen wahrzunehmen.
Diese Art des Reduktionismus ist nicht auf die Biologie beschränkt; man wendet sie stillschweigend und zuweilen auch ausdrücklich bei geisteswissenschaftlichen Studien an, einschließlich der Kunst. Demnach sind abstrakte Künstler, wie Wassily Kandinsky, Piet Mondrian und Kasimir Malewitsch, radikale Reduktionisten, wie es auch J. M. W. Turner in seiner späten Phase war. In der Kunst wie auch in der Naturwissenschaft trivialisiert der Reduktionismus unsere Wahrnehmung – von Farbe, Licht und Perspektive – nicht, sondern führt uns diese Komponenten auf eine neue Weise vor Augen. Einige Künstler, insbesondere Vertreter der modernen Kunst, haben ihr chromatisches Spektrum und ihre Ausdrucksmittel sogar bewusst eingeschränkt, um, wie Mark Rothko und Ad Reinhardt, die fundamentalsten, ja spirituellen Ideen ihrer Kunst zu vermitteln.
Im 21. Jahrhundert sind wir nun vielleicht zum ersten Mal in der Lage, eine Verbindung zwischen Klimt, Kokoschka und Schiele zu Kris und Gombrich herzustellen und uns direkt mit folgenden Fragen auseinanderzusetzen: Inwiefern können Neurowissenschaftler von künstlerischen Experimenten profitieren? Und was lernen Künstler und Betrachter möglicherweise von Neurowissenschaftlern über künstlerische Kreativität, Mehrdeutigkeit und die perzeptuelle und emotionale Rezeption von Kunst? In diesem Buch habe ich mithilfe der expressionistischen Kunst von »Wien 1900« und der neu entstehenden Biologie der Wahrnehmung, Emotion, Empathie, Ästhetik und Kreativität gezeigt, wie Kunst und
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