Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Veränderung materieller Substanz ablaufen, kam ihm nur eine materielle Substanz – Blut – in den Sinn, die überall im Körper vorhanden war und die der Sitz dieser Krankheiten sein müsse. Demzufolge argumentierte er, im Blut säßen dynamische Erkrankungen, die vom Ungleichgewicht der Blutbestandteile – dem Plasma und den darin enthaltenen Proteinen – herrührten. Diese krankhaften Zustände bezeichnete er als »Blutkrasen«. Da Rokitansky schon immer ein Faible für die Chemie gehabt hatte, glaubte er nun, die Zeit sei reif, um diese Art der Erkrankung einer chemischen Analyse zu unterziehen. Diese neue blutbasierte Pathologie machte in Wien Schule und wurde von Rokitanskys Arbeitsgruppe verbreitet. Er selbst erläuterte die Theorie in seinem Handbuch der pathologischen Anatomie .
Rudolf Virchow (1821–1902), der eine äußerst positive Besprechung des Handbuchs schrieb, kritisierte Rokitansky in diesem Punkt scharf und machte sich über die Theorie der dynamischen Krankheiten lustig; er bezeichnete sie als monströsen Anachronismus, der versuche, Anatomie mit Chemie zu erklären. Rokitansky erkannte, dass die Kritik gerechtfertigt war, und ihm ist zugutezuhalten, dass er die Theorie in die folgende Auflage seines Handbuchs nicht mehr aufnahm.
Kapitel 5
Obwohl Freud es teilweise aufgab, die Lokalisierung von Hirnfunktionen voranzutreiben und nach den kausalen Verbindungen zwischen Gehirn und Verhalten zu suchen, wies seine reduktionistische Vorstellung des Geistes drei bemerkenswert weitsichtige Merkmale auf. Erstens unterstrich sie, wie auch schon seine früheren anatomischen Studien über das Neunauge und den Flusskrebs, dass die Nervenzelle – das Neuron – die jeweils grundlegende Einheit der Informationsverarbeitung in den drei Hirnsystemen der Wahrnehmung, des Gedächtnisses und des Bewusstseins ist.
Zweitens erklärte die Vorstellung das Speichern von Erinnerungen. Freud nahm an, dass die Kommunikationspunkte zwischen den Nervenzellen – die Synapsen, die er Kontaktschranken nannte – nicht unveränderlich seien, sondern sich durch Lernen modifizieren ließen (was wir heute als synaptische Plastizität bezeichnen). Zudem ging er davon aus, dass beim Speichern von Erinnerungen die Kontaktschranken zwischen den Neuronen des Gedächtnissystems zunehmend durchlässiger werden. Diese moderne Auffassung über die Neurobiologie des Gedächtnisses hatte im Grunde auch Ramón y Cajal bereits 1894 vertreten.
Drittens, und das war sogar noch innovativer, teilte Freud die am Erzeugen von Verhalten beteiligten Hirnschaltkreise in zwei größere Kategorien ein: in wahrnehmende oder vermittelnde und regulierende Schaltkreise. Laut Freud bilden vermittelnde Schaltkreise die Hirnmechanismen, die das Verhalten steuern; sie analysieren einen Reiz, entscheiden, ob sie eine Verhaltensweise hervorbringen, und erzeugen ein Aktivitätsmuster. Die Intensität dieser Aktivität lässt sich jedoch durch regulierende Schaltkreise modifizieren, das heißt verstärken oder unterdrücken. Wir wissen heute, dass Neuronen in regulierenden Schaltkreisen – das dopaminerge, serotonerge und cholinerge System – diese modifizierende Funktion ausüben, indem sie durch ihre Aktivität die Verbindungen zwischen Neuronen in den vermittelnden Schaltkreisen stärken oder schwächen.
Kapitel 11
Meine Erörterungen der Gestaltpsychologie beruhen auf Ash (1998), Rock (1984) sowie Kandel, Schwartz und Jessell (2000). Was meine Ausführungen zu Popper, Helmholtz und induktiven Schlussfolgerungen betrifft, so hat Thomas Albright darauf hingewiesen, dass sich auch Leonardo da Vinci bereits der Rolle der Betrachter bewusst war. In seiner Abhandlung über die Malerei, Trattato della pittura , schrieb Leonardo: »Ein Maler sollte sich daran erfreuen, große Vielseitigkeit in seinen Werken zu entfalten und Wiederholungen zu vermeiden, auf dass er vermittels dieses Erfindungsreichtums das Auge des Betrachters anzuziehen und zu bezaubern vermöge.« Riegl griff diese Idee sehr viel detaillierter und programmatischer wieder auf und schrieb den Betrachtern die Aufgabe zu, das Bild zu vervollständigen. Damit verlieh er dem »Anteil des Betrachters« eine neue Bedeutung.
Kapitel 15
Eine gute Beschreibung der Kuffler-Schule und der Arbeiten von Hubel und Wiesel findet sich in D. H. Hubel und T. N. Wiesel (2005). Kufflers Leben im Hinblick auf die British Royal Society wird in Katz’ wissenschaftlich geprägten Biographical Memoirs (1982)
Weitere Kostenlose Bücher