Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
er mit Freud teilte: Instinktive Triebe – einschließlich Sexualität und Aggression – sind nicht nur in Erwachsenen, sondern auch in Kindern und Jugendlichen präsent. Das Thema der kindlichen Sexualität war in Wien nach der Veröffentlichung von Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie im Jahre 1905 aufgekommen, in denen Freud erläutert, dass die körperliche Reifung in der Pubertät lediglich den Vorsprung der bereits vorhandenen intensiven frühkindlichen Sexualität aufholt. Dennoch war die Öffentlichkeit für die Sexualität Heranwachsender als Thema der Kunst noch nicht bereit – und erst recht nicht für Kokoschkas sexuell aufgeladene Darstellungen.
Abb. 9-2.
Oskar Kokoschka,
Am Boden sitzender weiblicher Akt (1913).
Tusche, Wasserfarben und Bleistift auf Packpapier.
Abb. 9-3.
Oskar Kokoschka,
Stehender Mädchenakt, Linke am Kinn (1907).
Bleistift, Wasserfarben auf Papier.
Beim Zeichnen der aufkeimenden Sexualität seiner jungen Modelle fing Kokoschka sowohl ihre natürliche Offenheit als auch ihre Befangenheit ein. So offenbart die gehemmte Pose des Mädchens in seiner Zeichnung Stehender Mädchenakt, Linke am Kinn von 1907 (Abb. 9-3) ihr Unbehagen darüber, nackt zu posieren. Hier sowie in Am Boden sitzender weiblicher Akt (Abb. 9-2) erkennt man Kokoschkas Faszination von Bewegungen, die einen Wesenszug oder soziale Gehemmtheit verraten. Zudem unterstreichen die jungenhafte Gestalt und die eckigen Konturen des weiblichen Körpers in diesen Zeichnungen die Jugend des Modells. Das Mädchen auf beiden Bildern ist höchstwahrscheinlich Lilith Lang, eine 14-jährige Mitschülerin an der Kunstgewerbeschule. Diese frühen Zeichnungen, vor allem Liegender weiblicher Akt (Abb. 9-4), verdeutlichen, wie Kokoschka durch die kantigen Körperkonturen die spontanen, unreglementierten Gesten wie auch die unbewussten emotionalen Instinkte seiner jungen weiblichen Modelle enthüllte.
Abb. 9-4.
Oskar Kokoschka, Liegender weiblicher Akt (1909).
Wasserfarben, Gouache und Bleistift auf dickem hellbraunen Velinpapier.
Im Jahre 1907, noch als Student, begann Kokoschka für die Wiener Werkstätte zu arbeiten, wo er Plakate und Bildpostkarten entwarf und Fächer dekorierte. In dieser Zeit schrieb er ein expressionistisches Gedicht, in dem er Fantasien über seine erste Jugendliebe ausdrückte, und illustrierte es mit acht Farblithografien. Das daraus entstandene Buch Die träumenden Knaben , das 1908 erschien, gilt gemeinhin als eines der großen Kunstbücher des 20. Jahrhunderts.
Abb. 9-5.
Oskar Kokoschka, Illustration für Die träumenden Knaben (erschienen 1908).
Farblithografie.
Mit den sexuell aufgeladenen Illustrationen dokumentiert Oskar Kokoschka die überreiche erotische Fantasiewelt von Heranwachsenden, die Sigmund Freud von seinen klinischen Studien erwachsener Patienten ableitete. Ernst Gombrich hebt hervor, dass man während Kokoschkas junger Jahre der Kunst von Kindern und ihrem Sinn für Originalität und Unabhängigkeit große Aufmerksamkeit schenkte. Diese Tendenzen zeigen sich in den etwas seltsam anmutenden Darstellungen in Die träumenden Knaben . Wie die gezeichneten Akte von Jugendlichen verraten diese dekorativen Illustrationen, die Kokoschka mit erst 21 Jahren vollendete, noch immer den starken Einfluss Gustav Klimts. Tatsächlich enthält das Buch nicht nur eine an Klimt gerichtete schön gestaltete Widmung – die Verehrung setzt sich im zweiten Bild fort, in dem ein dankbarer Kokoschka von Klimt gestützt wird (Abb. 9-5).
Wie in seinen früheren expressionistischen Gedichten und seinen Theaterstücken setzt sich Kokoschka in Die träumenden Knaben nicht nur mit Träumen auseinander, sondern auch mit kindlicher und jugendlicher Erotik sowie mit der Verbindung von Erotik und Aggression – allesamt Themen, die Freud einige Jahre zuvor in Die Traumdeutung aufgebracht hatte. Es ist unwahrscheinlich, dass Kokoschka zu diesem Zeitpunkt bereits Die Traumdeutung oder Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie gelesen hatte, doch ziemlich sicher war er mit den dort behandelten Ideen vertraut, da sie mittlerweile zum allgemeinen Kulturgut gehörten. Vermutlich waren die Lithografien, die Träume und jugendliche Sexualität ebenso thematisierten wie ödipale Triebe und die Auseinandersetzung mit dem Vater, unter dem Einfluss von Freuds Schriften entstanden.
Abb. 9-6.
Oskar Kokoschka, Die träumenden Knaben (1908, erschienen 1917).
Farblithografie.
Das Buch sollte ursprünglich innerhalb einer Reihe von
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