Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Überblick über alles geben, was man über die Welt und ihre Bewohner wusste. Kokoschka gefielen besonders die biologischen Zeichnungen, vor allem die anatomischen Abbildungen des Skeletts, der Muskeln und der inneren Organe, die sich unter der Haut verbergen (Abb. 9-1).
Als Kokoschka erwachsen war, machte die medizinische Verwendung von Röntgenstrahlen großen Eindruck auf ihn. 1895 hatte der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen festgestellt, dass die später nach ihm benannten Strahlen durch die Körperoberfläche dringen und die darunterliegenden Knochen sichtbar machen konnten. Diese bemerkenswerte Entdeckung wurde von der Wiener Presse in Windeseile verbreitet und erregte großes Aufsehen. Der Kunsthistoriker und Kokoschka-Experte Claude Cernuschi beschreibt die Reaktion:
»Durch undurchsichtige Substanzen sehen zu können! In eine geschlossene Kiste! Die Knochen eines Armes, eines Beines, eines Körpers zu sehen, durch Fleisch und Kleider hindurch! Eine solche Entdeckung ist, gelinde gesagt, das Gegenteil von dem, was wir bisher als gegeben angenommen hatten.« 97
Zudem war Kokoschka höchstwahrscheinlich über Freuds psychoanalytische Werke im Bilde – falls nicht durch das Lesen seiner Bücher, dann mit Sicherheit über die Bekanntschaft mit Intellektuellen, wie dem berühmten Wiener Architekten Adolf Loos. Dieser schrieb Artikel für die Zeitung des Sozialkritikers und Dramatikers Karl Kraus, Die Fackel , in der Freuds Ansichten häufig thematisiert wurden.
Die anatomischen Zeichnungen im Orbis Sensualium Pictus , die medizinische Anwendung der Röntgenstrahlen sowie Freuds Auffassung der Psyche ließen in Kokoschka die Überzeugung wachsen, dass er unter der Oberfläche nach der Wahrheit suchen müsse, wenn er das Innenleben seiner Modelle darstellen wollte. Er nutzte Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Attitüde, um die soziale Fassade der Person aufzubrechen und ihren wahren Gefühlszustand bloßzulegen. Die Arbeit an einem Porträt begann er, indem er seine Modelle ermunterte, sich zu bewegen, zu reden, zu lesen oder über etwas nachzudenken und darüber die Anwesenheit des Künstlers zu vergessen. Auf ganz ähnliche Weise würden auch Psychoanalytiker ihre Patienten auffordern, sich auf die Couch zu legen, das Gesicht vom Therapeuten abgewandt, um dessen Anwesenheit zu vergessen und in Ruhe frei assoziieren zu können.
Die dänische Kunstkritikerin Karin Michaelis (deren Porträt Kokoschka 1911 zeichnete) schreibt, dass Kokoschka »wie manche Psychiater den Menschen auf den Grund ihrer Seele schauen konnte. Ein Blick genügte, und er entdeckte die geheimsten Schwächen, die Trauer oder die Laster der Menschen.« 98 Tatsächlich sagte Loos über Kokoschka, er habe »Röntgenaugen«. Cernuschi bemerkt dazu:
In die von der Neuen Wiener Schule eingeführten praktischen Arbeitsweisen gehen die äußerst klugen und analytischen Annahmen ein, dass … der menschliche Körper nicht einfach von seiner äußeren Schicht her zu betrachten ist, dass der Körper eine räumliche Einheit ist, ein dreidimensionaler Organismus, dessen »Wahrheit« sich nicht durch die äußere Erscheinung offenbart, sondern durch seine verborgene innere Struktur. … Genau diese Einstellung … bildete das methodische wie auch das geistige Rückgrat von Rokitanskys medizinischer Praxis. … Tatsächlich konnte Kokoschka wohl gerade aus einer solchen medizinischen Denkweise heraus seine eigenen visuellen Experimente mit einer Philosophie der Wahrheit verknüpfen, konnte Loos eine Verbindung zwischen diesen Experimenten und der Entdeckung und medizinischen Nutzung der Röntgenstrahlen herstellen und haben Kunsthistoriker herausgefunden, dass sich Kokoschkas visuelle Experimente gut mit Metaphern des Sezierens beschreiben lassen. 99
KOKOSCHKA WURDE 1886 IN PÖCHLARN geboren, einer kleinen Stadt an der Donau etwa 100 Kilometer westlich von Wien. Wie Klimt entstammte er einer Familie von Goldschmieden, obwohl sein Vater zuerst Handelsvertreter für einen Juwelier und später Buchhalter in Wien war. Von 1904 bis 1908 studierte er an der Kunstgewerbeschule des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, wo er neben Zeichnen und Malen auch Grafik und Buchillustration erlernte.
Unter dem Einfluss von Klimt, Auguste Rodin und Edvard Munch sowie Paul Gauguins tahitischen Gemälden begann Kokoschka im Jahre 1906, vorpubertäre Nackte zu malen – männliche wie auch weibliche. Hier spiegelt seine Kunst eine weitere Idee wider, die
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